Fernschüsse, Dreierkette und eine Regel: Sechs Erkenntnisse des ersten EM-Spieltags

Fernschüsse, Dreierkette und eine Regel: Sechs Erkenntnisse des ersten EM-Spieltags

Der erste EM-Spieltag ist abgeschlossen, ein potenzieller Star des Turniers zeichnet sich aber noch nicht ab. Und es gibt noch weitere spannende Erkenntnisse.

Schnappschüsse des ersten EM-Spieltags. Die meisten vermitteln Freude.

Schnappschüsse des ersten EM-Spieltags. Die meisten vermitteln Freude.

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Lust auf Tore

12 Spiele, 34 Tore. Das ist für einen ersten EM-Spieltag nicht nur Rekord, sondern auch logisch. Einerseits natürlich, weil es erst seit 2016 24 Teilnehmer gibt (am ersten Spieltag 2021 fielen 28 Tore), andererseits, weil die Mannschaften es darauf anlegen.

Nahezu alle Nationen präsentierten sich zum Einstieg mutig und relativ offensiv, und das trotz der Tatsache, dass 16 von 24 Teilnehmern das Achtelfinale erreichen werden. Es hätte auch früh schon taktiert werden können. Stattdessen haben selbst die Mannschaften, die eher mauern und auf Konter lauern, aktive Druck- und Drangphasen eingestreut. Fast alle Spiele waren bisher richtig ansehnlich.

Kein Tabu mehr

Ansehnlich waren auch schon einige Tore, besonders die aus der Distanz. Arda Güler für die Türkei, Michel Aebischer für die Schweiz, Nicolae Stanciu für Rumänien oder Lukas Provod für Tschechien.

Was zuletzt noch fast schon verpönt war, weil der Expected-Goals-Wert zu niedrig ist oder eine mühsam herausgespielte Offensivstruktur danach hinfällig wird, wurde am ersten EM-Spieltag fast schon zum Trend: Fernschüsse. Gegen disziplinierte tiefstehende Abwehrreihen augenscheinlich ein probates Mittel. Und kein Tabu mehr.

Die Top-Favoriten befinden sich bereits im K.-o.-Modus

Fast alle Mannschaften und Spiele haben bisher Spaß gemacht, dadurch teilweise sogar positiv überrascht, ausgerechnet die zwei Top-Favoriten wollten zur allgemeinen Unterhaltung zum Einstieg aber noch nicht so richtig beitragen.

Erst die Engländer gegen Serbien, dann die Franzosen gegen Österreich vermochten zum Auftakt weder richtig zu überzeugen noch die Fans zu begeistern. Beide fuhren aber wertvolle 1:0-Siege ein. Die Mannschaften von Gareth Southgate und Didier Deschamps, was ob der Herangehensweisen in den vergangenen Jahren aber auch nicht überrascht, befinden sich wohl bereits in der Gruppenphase im K.-o.-Runden-Modus. Die Ergebnisse gaben ihnen oft Recht.

Die Dreierkette regiert

Aufgezeichnet ist meistens eine Viererkette, realtaktisch wird allerdings in einer Dreierkette aufgebaut. Oft mit zwei versetzten Spielern davor. Was in den vergangenen Jahren schon im Vereinsfußball großflächig zurückgekehrt ist – bestes Beispiel ist Manchester City -, zeichnet sich nun auch bei der EM unter einigen Nationalmannschaften als Trend ab.

England baut in einer 3-2-Struktur auf, die Niederlande ebenso, bei Deutschland kippt meistens Toni Kroos neben die Innenverteidiger ab, damit die Außenverteidiger hochschieben können. Portugal etwa hat in letzter Linie von vornherein drei Mann aufgestellt. So flächendeckend gab es das bei einem Turnier womöglich seit der WM 1990 nicht mehr, deren Ausgang für Deutschland ja ein gutes Omen ist.

Romelu Lukaku

Romelu Lukaku hätte der einzige Doppelpacker des 1. Spieltags werden können. Doch seine beiden Tore gegen die Slowakei wurden einkassiert.
IMAGO/Buzzi

Aufs Team kommt es an

34 Tore an einem Spieltag, aber einen Doppelpacker gab es noch nicht. Die EM 2024 ist bisher eine des Kollektivs, Einzelspieler – also auch ein potenzieller Star des Turniers – konnten sich noch nicht abheben. Wie Andrea Pirlo 2012 als Gestalter bei Italien, Antoine Griezmann 2016 als Goalgetter bei Frankreich, Raheem Sterling 2021 als wichtiger Ankurbler für die Engländer. Es gibt noch genug andere Beispiele.

Selbst bei Deutschlands furiosem Auftaktsieg gegen Schottland ergab sich keine Toni-Kroos- oder Jamal-Musiala-Show, vorne trugen eigentlich alle zum 5:1 bei. Auch bei der intensiven Arbeit gegen den Ball, da zogen selbst Florian Wirtz und Musiala mit, wurde kollektiv geglänzt. Italiens offensive Nachlässigkeit trotz großer Dominanz gegen Albanien war ebenso ein Problem des Teams wie das niederländische Herausspielen von Chancen, Spaniens Kontrolle, das Dauerfeuer von Türken und Georgiern, aber auch Portugals Ideenlosigkeit, Englands verlorener Faden.

Hoffnungsträger Khvicha Kvaratskhelia war bei Georgiens EM-Debüt tatsächlich nur einer von vielen, Jude Bellingham konnte sich nach starkem Beginn auch nicht gegen das starke Nachlassen seiner Mannschaft auflehnen. Kylian Mbappé oder Cristiano Ronaldo kamen ohne flüssiges Mannschaftsspiel nur in Ansätzen zur Geltung. Bisher zeigt die EM: Aufs Team kommt es an.

Danke für diese Regel

Kaum gibt die UEFA vor, dass nur noch die Kapitäne auf den Schiedsrichter einreden dürfen, wurde ein ewiges Problem des Fußballs wie im Handumdrehen drastisch reduziert. Entscheidungen werden viel schneller hingenommen, was natürlich auch dem Spielfluss dienlich ist. Wie auch der Konzentration der Spieler aufs Wesentliche. Und beim Zuschauen macht’s Freude. Zumal auch der VAR bisher ziemlich reibungs- und fehlerlos eingesetzt wird. Gerne mehr davon. Auch von den Fernschüssen.

Niklas Baumgart