Der Machtwechsel

Der Machtwechsel

Der SC Magdeburg ist neuer Deutscher Meister – und gerade auch international das Maß aller Dinge. Das will der Traditionsklub am 8. und 9. Juni beim Final Four der Champions League unter Beweis stellen. National braucht es keinen Beleg mehr dafür.

Als einfache Formel für Handball-Laien galt lange: “Der THW Kiel ist der FC Bayern des Handballs.” Und natürlich sind die Norddeutschen auch heute noch unangefochtener Rekordmeister mit 23 Titeln. Doch nicht umsonst formulierte es Bob Hanning in seiner kicker-Kolumne Ende März derart plakativ: “Magdeburg ist das neue Kiel.”

Der Geschäftsführer der Füchse Berlin, also eigentlich des Ostrivalen, sieht eine Wachablösung im deutschen Handball – und steht mit dieser Meinung längst nicht mehr allein da. “Magdeburg ist das Maß aller Dinge, wie es früher der THW Kiel war”, sagt Hanning: “Sie haben den Handball neu geprägt und in eine neue Dimension geführt.”

Ausgewogene Mischung aus Innovation und Beständigkeit

Der SC Magdeburg ist ein ostdeutscher Traditionsklub, der seine Wurzeln nie vergessen hat, aber auch keineswegs in der Vergangenheit stehen geblieben ist. Der SCM setzt auf eine ausgewogene Mischung aus Innovation und Beständigkeit.

Mit dieser ist er zum derzeit erfolgreichsten Handballverein der Welt aufgestiegen. Seitdem der SCM 2021 die European League gewann, geht es an der Elbe rasant aufwärts. Dreimal in Folge krönte sich Magdeburg zum Klubweltmeister, gewann erstmals nach 21 Jahren wieder die Deutsche Meisterschaft und auch die Champions League.

Im Endspurt der Saison 2023/24 ist gar das Quadruple möglich: Neben den Triumphen bei der Klub-WM und im DHB-Pokal war die Deutsche Meisterschaft nur noch Formsache, im Halbfinale der Königsklasse wartet mit Aalborg keine unüberwindbare Hürde.

Magdeburg ist ein besonderer Ort für den Handball. Das war schon vor den ganzen Titeln der jüngeren Vergangenheit so. Doch neben “harter Arbeit”, die Kapitän Christian O’Sullivan als Erfolgsgeheimnis anführt, ist es vor allem “ein klares Konzept, an das wir alle zu 100 Prozent glauben. Es ist nicht über Nacht passiert, dass wir plötzlich eine Spitzenmannschaft geworden sind.”

Die größten Aktien am Magdeburger Erfolgsrausch hat fraglos Trainer Bennet Wiegert, den alle nur “Benno” rufen. Der damalige Jugendkoordinator, Anfang des Jahrtausends als Spieler selbst noch an den bis dato letzten großen Erfolgen des SCM beteiligt, hatte den schlafenden Riesen 2015 mit nur 33 Jahren übernommen.

“Eigentlich wollte ich das damals gar nicht. Bundesliga-Trainer zu sein, erschien mir viel zu schnelllebig”, sagt Wiegert rückblickend. Er setzte sich zu jener Zeit intensiv mit einem Zukunftskonzept für den Klub auseinander. Plötzlich sollte Wiegert dieses selbst mit Leben füllen.

“Heavy-Metal-Handball” verspricht Spektakel

Trotz der Zweifel weckte der heute 42-Jährige “seinen” Verein mit dem Gewinn des DHB-Pokals im Jahr 2016 aus dem Dornröschenschlaf. Die Art und Weise, wie Wiegert seit Amtsübernahme Handball spielen lässt, hat international Eindruck hinterlassen.

Der SC Magdeburg stresst seine Gegner permanent, dieser “Heavy-Metal-Handball” verspricht Spektakel und keine Luft zum Durchschnaufen – weder für den Kontrahenten noch den Zuschauer.

Natürlich findet das in einer derart handballverrückten Stadt wie Magdeburg Anklang. “Spieler haben es mal so beschrieben: Bist du erfolgreich, dann wirst du durch die Stadt getragen. Bist du nicht erfolgreich, wirst du auch ganz schnell aus der Stadt herausgetragen”, sagt Wiegert offen.

Und der einstige Linksaußen muss es wissen. Wiegert ist in Magdeburg geboren, dort aufgewachsen und hat schon als Spieler des SCM große Erfolge gefeiert. Vater Ingolf, der 1980 mit der DDR-Nationalmannschaft Olympiasieger wurde, ist eine Magdeburger Vereinslegende, sein Sohn auf dem besten Wege dorthin.

Wiegert: “Schweißausbrüche bekomme ich dann, wenn …”

Wiegert, der an der Seitenlinie ein ständig brodelnder Vulkan ist, ruht abseits des Spielfelds in sich. “Es ist kein Stress für mich, wenn es in der 60. Minute 30:30 steht. Ich habe auch keine Probleme damit, 12 bis 13 Stunden am Tag zu arbeiten. Schweißausbrüche bekomme ich dann, wenn ich versprochen habe, zum Abendbrot zu Hause zu sein, in der Halle aber merke, dass ich noch einen Termin habe.”

Schwierig, wenn einen die Arbeit in der Halle oft nicht loslässt. Wiegert schuftet trotz eigenen Büros in der neuen Geschäftsstelle fast ausschließlich direkt in der GETEC-Arena. Der Trainer-Raum, kaum größer als zehn Quadratmeter und fensterlos, ist kein Hindernis.

Wiegert ist an das Arbeiten unter schwierigen Bedingungen gewöhnt, Trainingspläne und Videoanalysen entstehen auf Reisen am Notebook. In seinem Wirken sei eigentlich ohnehin nur eines wichtig: “Authentizität ist als Trainer das höchste Gut. Idole sind super, aber eine schlechte Kopie von irgendjemandem zu sein, ist nicht gut. Die Spieler merken es schnell, wenn du ihnen etwas vorspielst.”

Bei schlechten Entscheidungen hält Wiegert gerne den eigenen Kopf hin. Den Blitzableiter musste der Erfolgscoach in den vergangenen Monaten aber kaum geben. Sieg reiht sich an Sieg, Trophäe an Trophäe.

Dass Wiegert den Biss verlieren könnte, glaubt keiner, der ihn näher kennt. “Ich habe Zufriedenheit immer als Leistungshemmer empfunden. Deswegen sorge ich auch ganz gerne mal für Unzufriedenheit. Bewusst. Aber ich bin tatsächlich auch ein Typ, der nie satt ist”, macht er deutlich.

Ein Hexenkessel voller brodelnder Emotionen

Diesen Eindruck vermittelt er auch stets dem von ihm als “fanatisch” beschriebenen Magdeburger Publikum. Das ist seit jeher “gefürchtet”, weil es nicht dem gesitteten Event-Publikum in anderen großen Arenen entspricht. “Magdeburg ist da anders”, bekräftigt Wiegert. Ein Hexenkessel voller brodelnder Emotionen. Beim SCM geraten regelmäßig europäische Schwergewichte in der Bundesliga wie in der Königsklasse ins Schleudern. Jüngst bekam Kielce im Champions-League-Viertelfinale in einem dramatischen Siebenmeterwerfen die Wucht der Heimspielstätte zu spüren.

“Was unsere Fans ganz schnell spitzbekommen: Wenn jemand etwas mit Herzblut macht”, weiß Wiegert aus Erfahrung. Gisli Kristjansson, großer Fanliebling, steht wie kein Zweiter für den Magdeburger Spielstil. Gnadenlos in die Lücken, immer in höchstem Tempo, ohne Rücksicht auf den eigenen Körper.

Wir sind erst am Anfang.

Geschäftsführer Marc-Henrik Schmedt

Dass Kristjansson in diesem Jahr als erster SCM-Profi überhaupt – und als erster Isländer – zu Deutschlands Handballer des Jahres gewählt wurde, darf getrost als Bestätigung der Arbeit in Sachsen-Anhalt verstanden werden.

Den Transfer Kristjanssons im Jahr 2020 vom THW Kiel darf sich Wiegert auf die Fahne schreiben. Der hat mittlerweile eine Doppelfunktion inne, ist Trainer und Geschäftsführer Sport in Personalunion.

Kompetenzerweiterung Wiegerts als Schlüssel

“Ein ganz wichtiger Punkt, warum wir heute erfolgreich sind, ist die Kompetenzerweiterung von Benno”, ist Dirk Roswandowicz, seit 2010 ehrenamtlicher Präsident, überzeugt. Das führte vor allem dazu, dass Marc-Henrik Schmedt, zuvor alleiniger Geschäftsführer, entlastet wurde und sich auf seine Kernkompetenzen konzentrieren kann.

Lust auf mehr?

Als kluger Finanz- und Marketing-Stratege hat Schmedt hauptverantwortlich dafür gesorgt, dass der vor über einem Jahrzehnt noch mit Verbindlichkeiten von rund einer Million Euro dastehende SCM schuldenfrei ist. “Wir sind erst am Anfang”, sagt er fast drohend.

Schmedts Credo: “Was hat eigentlich Uli Hoeneß gedacht, nachdem er mit Bayern im Olympiastadion dreimal Deutscher Meister und Europapokalsieger der Landesmeister geworden war? Hat er gedacht: Wir hören jetzt auf? Meine Vision ist es, dass der SCM auf lange Sicht ein europäischer Topverein sein wird.” Und dann als der FC Bayern des Handballs gilt.

Maximilian Schmidt