Vielseitiger und ein bisschen unsicher: Fünf Erkenntnisse aus Reals CL-Saison

Real Madrid steht vor seinem 15. Henkelpott, nur noch Borussia Dortmund im Weg. Mit Königlichen welcher Art es der BVB in diesem Jahr zu tun bekommt.

Bei Real Madrid gibt es gleich einige Schlüsselspieler.

Bei Real Madrid gibt es gleich einige Schlüsselspieler.

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Sie schon wieder. Die Blancos aus der spanischen Hauptstadt hatten sich in der vergangenen Saison “bereits” im Halbfinale aus ihrem Lieblingswettbewerb verabschiedet, nun sind sie im Finale einmal mehr dabei. Nach Zittereinheiten gegen RB Leipzig und Manchester City, nach typischer und vermeintlich untypischer Brillanz gegen den FC Bayern. Welche Erkenntnisse Real Madrid auf dem Weg nach Wembley geliefert hat.

1. Unsicherheit zwischen den Pfosten?

Mit der Qual der Wahl hat es sich erledigt. Andriy Lunin fällt aus, Thibaut Courtois wird gegen den BVB zwischen den königlichen Pfosten stehen. Ist das Glück im Unglück für Carlo Ancelotti, weil er den immer stärker aufspielenden Ukrainer ausgerechnet im größten Spiel hätte vertrösten müssen?

Courtois, großer Matchwinner bei Reals jüngstem CL-Sieg 2022 gegen Liverpool, ist fit unumstritten. Aber ist er auch unumstritten fit? Es reicht, um zu spielen, doch die fehlende Matchpraxis ist ein Faktor. Im Schatten des besonderen Kroos-Abschieds im letzten Ligaspiel gegen Betis offenbarte der Belgier ein paar untypische Unsicherheiten – die vielleicht gar nicht untypisch sind, wenn man fast die komplette Saison wegen eines Kreuzbandrisses verpasst hat.

Dem Courtois von 2022, der voll im Saft stand, steht Borussia Dortmund jedenfalls nicht gegenüber. Wobei man bei ihm nie wissen kann.

2. Eine Schwäche abgeschwächt

Reals Stärken und Schwächen haben seit vielen Jahrzehnten ziemlich durchgängig Tradition. Zu letzteren zählt eine gewisse defensive Anfälligkeit, gerade nach Ballverlusten. Wie ein beachtliches Rückzugsverhalten im Rückspiel gegen die konternden Bayern gezeigt hat, konnte Real diese Schwäche zuletzt jedoch augenscheinlich abschwächen.

Auf der linken Seite bringt der offensiv zurückhaltende, defensiv aber enorm wichtige Ferland Mendy wertvolles Tempo und Körperlichkeit mit. Der Franzose lässt nur wenig durch. Durch die Mitte sichert inzwischen vor allem auch Toni Kroos sauber ab, der sich gegen den Ball in den letzten Zügen seiner Karriere noch mal spürbar gesteigert hat.

Eine Chance hätte der BVB allerdings, der dort mit dem pfeilschnellen Karim Adeyemi stürmen könnte, über Reals rechte Abwehrseite. Dort spielt Kapitän Dani Carvajal zwar seine vielleicht beste Saison überhaupt, zudem sichert rechts innen der durchaus flinke Antonio Rüdiger ab. Sollte Dortmund Adeyemi aber in Eins-gegen-eins-Duelle mit dem nicht ganz so mobilen Carvajal bringen, liegt Gefahr in der Luft.

3. Das komplette Mittelfeld

Er ist nicht nur der robuste Abräumer vor der Abwehr, sondern durch Fernschüsse oder nach Standards immer mal für einen Treffer gut. Doch Aurelien Tchouameni wird das Finale gegen Dortmund verpassen. Gut für Ancelotti und Real, dass sich zuletzt eigentlich alle Mittelfeldakteure breiter aufgestellt haben.

Kroos ist mittlerweile Abfangjäger in Teilzeit, Fede Valverde hat sich – wohl vom Deutschen – das Strategische angeeignet. Jude Bellingham agiert inzwischen ebenfalls tiefer und vielseitiger, Luka Modric hat die Rolle des einflussreichen Jokers für die Schlussphase angenommen und perfektioniert, Eduardo Camavinga sucht öfter den Abschluss – und war ohnehin schon eine Art Schweizer Taschenmesser.

Dass Reals clever zusammengebautes Mittelfeld zumindest in seinen Einzelteilen angreifbar ist, gehört aktuell wohl der Vergangenheit an. Der Ausfall von Casemiro-Erbe Tchouameni ist abzufangen. Auch wenn Kroos oder Camavinga wohl nicht als adäquate Innenverteidiger-Aushilfe einspringen können.

Jude Bellingham, Fede Valverde, Vinicius Junior

Könnten Toni Kroos womöglich gemeinsam ersetzen: Jude Bellingham (li.) und Fede Valverde (Mi.).
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4. Von allen Seiten

Lange Jahre landeten bei Real fast alle Bälle vorne bei Cristiano Ronaldo, in der jüngeren Vergangenheit war Madrid viel auf Karim Benzema angewiesen. Als der Franzose beim deutlichen Aus vor einem Jahr gegen ManCity dann nicht fit war, vergaben die Königlichen im Hinspiel zu viele Chancen – und hatten im Rückspiel kaum welche.

In den vergangenen zwölf Monaten hat sich aber einiges getan. Vinicius Junior hat sich noch mal weiterentwickelt und greift mittlerweile zentraler an, in Bellingham gibt es einen Goalgetter aus dem Mittelfeld, Rodrygo läuft in der Champions League – jetzt, wo er mehr auf links spielen darf – immer regelmäßiger zu Höchstform auf. Und wenn all diese Spielertypen an ihre Grenzen stoßen, wechselt Ancelotti eben Sturmkante Joselu ein. Mit einem Doppelpack aus seinem Köcher hatten die Bayern wohl am wenigsten gerechnet.

5. Eine neue Facette

Im Halbfinale hatte Real es, wie so oft seit 2012, mal wieder mit dem FC Bayern zu tun bekommen, so dominant wie im Rückspiel waren die Königlichen in diesem Duell der europäischen Schwergewichte aber selten aufgetreten. Das lag auch an einem merklich durchdachteren und kollektiveren Pressing.

Gegen das enorm aufbaustarke Manchester City war Madrid mit seinem hohen Anlaufen noch an seine Grenzen gestoßen und hatte irgendwann davon abgesehen, weil dieser Aspekt im Spiel des CL-Rekordsiegers sicherlich noch nicht vollständig ausgereift ist. Doch gegen den im Vergleich zu ManCity weniger spielstarken BVB könnte Real nicht in erster Linie abwarten und auf Konter lauern – diese Rolle wird wohl die Mannschaft von Edin Terzic einnehmen -, sondern sich auch mal zwingender am gegnerischen Strafraum festsetzen.

Niklas Baumgart