Calhanoglu, der deutsch-türkische “Gigant”

Calhanoglu, der deutsch-türkische “Gigant”

Hakan Calhanoglu ist der Fixpunkt in der türkischen Nationalmannschaft. Mit ihm als Antreiber strebt die Nation bei der anstehenden EM in Deutschland, wo große Unterstützung wartet, sogar Richtung ultimatives Ziel. Und warum auch nicht? Der bei Inter Mailand zum “Giganten” gereifte Anker sieht sich immerhin als besten Regisseur.

Fühlt sich bei Inter pudelwohl und hat in diesem Jahr seine erste Meisterschaft gewonnen: Hakan Calhanoglu.

Fühlt sich bei Inter pudelwohl und hat in diesem Jahr seine erste Meisterschaft gewonnen: Hakan Calhanoglu.

Getty Images

“Schon vor Monaten habe ich gesagt, dass ich zu den fünf besten Regisseuren gehöre – aber niemand hat mir geglaubt.” Das sagte Hakan Calhanoglu im April während eines von DAZN geführten Interviews rückblickend – und fühlte sich direkt bestätigt in seiner Wahrnehmung.

Schließlich hatte sich der türkische National- und Führungsspieler nach seinem vieldiskutierten Wechsel innerhalb Mailands von Milan zu Inter im Sommer 2021 nochmals weiterentwickelt und war bei den Nerazzurri zu einem der Schlüsselspieler schlechthin aufgestiegen.

Erst recht nach dem Abgang des jahrelang vor der Abwehr gesetzten Aufbauexperten Marcelo Brozovic, der wie viele 2023 dem monetären Lockruf aus Saudi-Arabien erlag und sich Cristiano Ronaldos Klub Al-Nassr anschloss. Genau dieser Wechsel hatte zur Folge, dass Inter-Coach Simone Inzaghi Calhanoglu etwas zurückzog und fortan als Ballverteiler mit dem Auge für alles einsetzte. Ein goldener Schritt.

“Ich arbeite sehr hart, bringe viele Opfer”

Hatte der schussgewaltige Akteur und Standardexperte früher eher als Zehner mit Highlight-Spielen und Schwankungen in den Leistungen gegolten, stieg er in Mailands schwarz-blauem Hoheitsgebiet in der Hackordnung immer weiter auf. Er avancierte zum neuen Regisseur, der die Fäden zusammenhält. Sein famoses Arbeitszeugnis: In 32 Serie-A-Partien schoss Calhanoglu 13 Tore, bereitete drei weitere vor, spielte zahllose Steil- sowie Aufbaupässe und war damit maßgeblich an der souveränen Meisterschaft des FC Internazionale beteiligt. Er ist laut Inzaghi “zu einem Giganten” herangewachsen.

94 Punkte, nur zwei Niederlagen (jeweils gegen Absteiger Sassuolo Calcio kurioserweise) und ein Torverhältnis von 89:22. Mittendrin: der türkische Ballverteiler, der als Bindeglied der besten Abwehr und des besten Angriffs Italiens fungierte und sich bei der Meisterparade in Mailand, als alle Spieler einzeln den Rasen vor der Scudetto-Übergabe betreten hatten, gesonderten Extra-Applaus anhören durfte. Lauter wurde es damals nach dem letzten Heimspiel nur bei Kapitän und Aushängeschild Lautaro Martinez.

Der verdiente Lohn für Calhanoglus Arbeit – und für ihn selbst nach seiner ersten nationalen Meisterschaft die ultimative Bestätigung (Milans Scudetto 2022 hatte er just im ersten Jahr nach seinem Wechsel zum Erzrivalen verpasst). “Ich glaube immer an mich selbst, ich kenne meine Qualitäten und habe vor niemandem Angst. Ich arbeite sehr hart, bringe viele Opfer”, sagte Calhanglu kürzlich im eingangs erwähnten DAZN-Interview. In seinem persönlichen Ranking setzte der inzwischen 30-jährige Profi dabei City-Ass Rodri auf Rang 2, den jüngst zum sechsten Mal in der Champions League triumphierenden Toni Kroos auf die 3, Joshua Kimmich auf die 4 und Enzo Fernandez vom FC Chelsea auf die 5 – sich selbst natürlich auf Platz 1.

“Pirlo ist mein Idol”

Doch warum sieht er, den die Interisti aus der Curva Nord im Giuseppe-Meazza-Stadion auch mit einem eigens kreierten Lied besingen (“… schwarz-blaues Idol, Hakan Calhanoglu …”), das so? “Die Tore, die ich mache, macht keiner von ihnen”, so der schussgewaltige Akteur. “Ich treffe von außerhalb des Strafraums, etwa per Freistoß. Ich mache Dinge, die schwierig sind. Das Spiel zu verwalten, ist ok. Aber Pässe nur über fünf Meter zu spielen, das mache ich nicht, das mag ich nicht. Mir gefällt es nicht, den Ball von hinten heraus nur zu verwalten. Ich möchte vertikal spielen, Räume schaffen, das Spiel schnell machen. Ich versuche stets, mit meinen Pässen die Wahrscheinlichkeit auf Tore zu erhöhen.” Dabei gebe es auch immer noch etwas zu verbessern. Er selbst wisse am besten, dass auch mit 30 Jahren noch zu lernen sei.

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Gerade, wenn er an europäische Legenden wie Xabi Alonso (“Ich versuche, mich von ihm inspirieren zu lassen, er hatte ein feines Füßchen und eine außergewöhnliche Spielintelligenz”) oder Andrea Pirlo denkt. Der italienische Weltmeister von 2006 “ist mein Idol, die Nummer 1. Wir kennen uns auch ein bisschen. Bei ihm gefällt mir sein ganzes Spiel. Besonders die Tatsache, welche Ruhe er am Ball hatte. Er hat den Stress rundherum nicht wahrgenommen.” Sein Berater habe ihm früh gesagt, “dass ich Pirlo ähnele. Ich habe mich aber eher als Zehner gesehen, doch mit der Zeit hatte er recht. Aber Pirlo ist Pirlo, ich kann mich nicht mit ihm vergleichen. Er ist top, die Nummer 1.

Haken Calhanoglu

Schaffte seinen Durchbruch beim KSC – und ging seither steil die Karriereleiter nach oben: Haken Calhanoglu.
imago sportfotodienst

Der ruhige Calhanoglu ist gereift – “als Mensch und Persönlichkeit”

Und auch wenn er mit seinen vergleichsweise wenig Titeln im Vergleich etwa zu Pirlo noch Aufholbedarf hat, seine steile Karriere bis hin zu seiner ersten Meisterschaft in diesem Jahr ist schon jetzt eine Hausnummer.

Angefangen hatte dabei alles in Deutschland: Nach seiner Ausbildungsstation Waldhof Mannheim, seinem Durchbruch als Profi beim Karlsruher SC und den Bundesliga-Stationen Hamburger SV sowie Bayer 04 Leverkusen war der gebürtige Mannheimer 2017 nach Italien gewechselt. Mit der Empfehlung etwa von 111 Bundesliga-Partien, 28 Toren und 22 Vorlagen. Es folgten 32 Treffer und 48 Assists in 172 Pflichtspielen für Milan, ehe seit seinem Wechsel zu Stadtrivale Inter unter anderem 135 Serie-A-Partien (27 Tore, 24 Vorlagen) stehen.

Auch Geschichten abseits des Platzes, die es früher etwa bei seinem Wechselchaos 2014 vom HSV zur Werkself, bei seinem kuriosen Sportstudio-Auftritt, bei seiner viermonatigen Sperre 2017 oder in Form seines kleinen verbalen Gefechts mit Zlatan Ibrahimovic nach seinem Wechsel zu Milan gegeben hat, haben abgenommen. Das habe aus seiner Sicht auch mit Inter zu tun, weswegen er (Vertrag bis 2027) auch Offerten aus Saudi-Arabien ausgeschlagen hat: “Wir sind eine Familie. Ich bin ablösefrei gekommen und ich weiß, dass der Klub über meine Zukunft entscheidet. Ich habe aber schon gesagt, dass ich bleiben möchte. Jetzt liegt es an ihnen, ob sie mich weiterhin behalten. Hier fühle ich mich wie neu geboren. Ich habe schwere Zeiten hinter mir, aber ich bin gereift – als Mensch und Persönlichkeit.”

“Wenn ich im Ausland spiele, werde ich hier von allen umarmt”

Hakan Calhanoglu

Ist Kapitän der türkischen Auswahl: Hakan Calhanoglu.
IMAGO/Marco Canoniero

Genau diese Ruhe außerhalb des reinen Fußballs mitsamt den famosen Qualitäten auf dem Platz sollen nun auch der türkischen Nationalmannschaft, für die sich der gebürtige Mannheimer schon zu U-16-Zeiten bekannt hat, zu neuen Höhen verhelfen. Nach der verpassten EM 2012 und den Vorrunden-Endstationen 2016 sowie 2021 (wegen Corona ein Jahr verschoben) soll eher wieder etwas Richtung Halbfinalteilnahme 2008 (2:3 gegen Deutschland) geschehen. Oder in Calhanoglus Worten: “Unser Ziel ist es, den Titel zu holen.”

Verlassen darf sich die vom Italiener Vincenzo Montella trainierte Nation, die es zunächst in Gruppe F mit Georgien (18. Juni, 18 Uhr), Portugal (22. Juni, 18 Uhr) und Tschechien (26. Juni, 21 Uhr) zu tun bekommt, dabei sicher auf lautstarke Unterstützung von den Rängen. Viele in Deutschland lebende Türken und Deutsch-Türken dürften mitsamt aus dem Heimatland anreisenden Fans in den Stadien für tolle Stimmung sorgen – und weitere in Deutschland geborene Spieler wie Kaan Ayhan (Gelsenkirchen), Salih Özcan (Köln), Kenan Yildiz oder Kumpel Can Uzun (jeweils Regensburg) bejubeln.

In diesem Zuge wünscht sich dann auch Calhanoglu mehr Anerkennung. Denn bei Besuchen in der deutschen Heimat fühle er sich manchmal immer noch “wie ein Ausgestoßener – und diese Situation tut mir weh”, verriet er jüngst gegenüber TRT Spor. “Wenn ich im Ausland spiele, werde ich hier von allen umarmt. Man hat mir gesagt, wenn du dich für Deutschland entscheidest, wirst du größere Transfers machen, aber das habe ich nicht akzeptiert. Die türkische Flagge ist sehr wertvoll für mich. Ich möchte, dass alle das wissen.”

Zum Thema: Visionär Hakan Calhanoglu – eine steile Karriere mit Störfällen (kicker-Text vom 7. September 2022)