Die Türkei ist aus der EM ausgeschieden – und wusste sportlich durchaus zu überzeugen. Doch nach dem Aus spricht kaum jemand darüber, weil die Leistung von einer politischen Inszenierung und Provokationen in den Schatten gestellt wurde.
![Erlebten das Aus der Türkei gemeinsam auf der Tribüne: Mesut Özil und Recep Tayyip Erdogan (re.).](https://sportblogg.net/wp-content/uploads/2024/07/5dc53530-971f-4423-87b0-4944a35531b5.jpeg)
Erlebten das Aus der Türkei gemeinsam auf der Tribüne: Mesut Özil und Recep Tayyip Erdogan (re.).
Getty Images
Es war ein mitreißendes Viertelfinale zwischen den Niederlanden und der Türkei, das Oranje letztlich 2:1 gewann – und das vor den Augen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der zu einem Blitz-Besuch nach Berlin gekommen war, um die Mannschaft zu unterstützen. Ein Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz gab es nicht, dafür spendete der 70-Jährige den türkischen Spielern am späten Samstagabend nach der Niederlage Trost.
Im dunklen Anzug und mit ernster Miene schüttelte Erdogan fleißig Hände, spendete Trost und stellte sich inmitten des Wolfsgruß-Eklats um den mittlerweile von der UEFA gesperrten Merih Demiral demonstrativ hinter die türkische Nationalelf. Der Präsident hatte seine Reisepläne geändert, um das Spiel besuchen zu können. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) hatte er deshalb sogar eine geplante Reise nach Aserbaidschan abgesagt.
“Ich gratuliere euch allen. Auch wenn wir heute hier dieses Ergebnis erzielt haben, seid ihr unsere Champions”, tröstete der 70-Jährige die niedergeschlagenen Spieler und meinte: “Was geschehen ist, ist geschehen. Wir waren unter den letzten Acht. Ich hoffe, nun werden wir die Champions. Es gibt auch eine Zukunft. Wir werden auch dies bewältigen.”
Verpasste wegen einer provokanten Geste das EM-Viertelfinale: Merih Demiral.
IMAGO/Depo Photos
Erdogan bemüht die Opferrolle
Erdogan klopfte sich auf sein Herz und inszenierte sich einmal mehr als glühender Patriot, demonstrativ schüttelte er auch die Hand von Demirel, der mit seiner umstrittenen Wolfsgruß-Jubelgeste erst die politischen Debatten rund um das Spiel gegen die Niederlande ausgelöst hatte. Unter Applaus des Teams verließ Erdogan die Kabine – und äußerte sich auf dem Heimflug dann auch noch zur Wolfsgruß-Debatte.
“Ehrlich gesagt hat die UEFA-Sperre für zwei Spiele gegen Merih einen schweren Schatten auf die Meisterschaft geworfen”, urteilte der 70-Jährige laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu im Gespräch mit Journalisten und sieht die Türkei dabei in einer Opferrolle: “Das ist unerklärlich, es ist eine rein politische Entscheidung. Tatsächlich handelt es sich um eine Strafe für die Türkei als Nation.” Erdogan steht in der Türkei mit seiner Meinung bei weitem nicht alleine da.
Özil befeuert die aufgeladene Debatte
Die Inszenierung hatte schon einige Stunden vor Anpfiff begonnen, so hatte auch der ehemalige deutsche Nationalspieler Mesut Özil, der ebenfalls unter den prominenten Gästen in Berlin war, die aufgeladene Debatte angeheizt. Der 35-Jährige hatte via Instagram ein Foto des kritisierten Demiral-Jubels geteilt.
Wenige Tage zuvor hatte Özil oberkörperfrei für ein Foto posiert, auf dem seine Brust-Tätowierung mit drei Halbmonden und einem heulenden Wolf zu sehen ist – Symbole, die “Grauen Wölfen” zugeordnet werden. Selbiges trifft auch auf den Wolfsgruß zu, der in der Regel die Zugehörigkeit oder das Sympathisieren mit der türkischen rechtsextremen Ülkücü-Bewegung und ihrer Ideologie ausdrückt.
“Das politische Programm der ‘Grauen Wölfe’ sieht eine Türkei nur für Türken vor. Sie wollen eine homogenisierte Gesellschaft, in der Minderheiten verachtet werden”, erklärte Autor und Pädagoge Burak Yilmaz, der seit Jahren zu den “Grauen Wölfen” recherchiert, in der ARD-Sportschau und warnte vor der gefährlichen Wirkung, wenn bekannte Sportler diesen Gruß offen zeigen. Gerade junge Menschen könnten das dann als etwas Normales wahrnehmen. In der türkischen Politik wird das anders wahrgenommen, so nutzt etwa die ultranationalistische Partei MHP, die Partner der Regierung Erdogan ist, das Zeichen selbst.
Fan-Marsch abgebrochen, Provokationen im Stadion
Doch nicht nur türkische Prominenz wie Özil provozierte, auch Fans fielen negativ auf. So hatten sich am Breitscheidplatz in Berlin rund 8000 türkische Fans versammelt, von denen viele immer wieder das Symbol zeigten. Manche trugen sogar eine Wolfsmaske, andere wiederum hielten Schilder hoch, auf denen sie die die Demiral-Sperre kritisierten. Die Polizei sah sich irgendwann genötigt, den Fanmarsch wegen “fortgesetzter politischer Botschaften” abzubrechen.
Damit nicht genug, denn im Stadion beobachteten nicht nur Erdogan und Özil auf ihren Tribünenplätzen, wie Tausende Fans eingehüllt in rot-weiße Flaggen der Forderung der Ultras nachkamen und während der Nationalhymne den Wolfsgruß zeigten.
Immerhin blieb nach Abpfiff das große Gefühl des Triumphs aus, da man sich sportlich verabschiedete. Das Traurige dabei ist, dass im Nachhinein die türkischen EM-Spiele wohl kaum wegen der leidenschaftlichen Auftritte, den durchaus sehenswerten Fußball, Jungstar Arda Güler oder die ohrenbetäubende Unterstützung der türkischen Fans in den Stadien in Erinnerung bleibe werden, sondern vielmehr wegen des Wolfsgruß-Eklats und des anschließenden politischen Wirbels.