“Das Tor sollte für Musiala zum Befreiungsschlag werden”

Andreas Möller wurde 1996 mit der DFB-Auswahl Europameister in England. Für den kicker schreibt er die EM-Kolumne. In dieser Ausgabe hebt der 56-Jährige drei Personalien des DFB-Auftaktsieges hervor und richtet seinen Blick auch auf Ungarn und Spanien.

Machte ein starkes Spiel: Jamal Musiala.

Machte ein starkes Spiel: Jamal Musiala.

IMAGO/Uwe Kraft

Von Andreas Möller

Der souveräne 5:1-Sieg und noch mehr die Entschlossenheit und die spielerische Leistung im Auftaktspiel gegen Schottland sind psychologisch eminent wichtig. Aber mit Sicherheit ordnen Bundestrainer Julian Nagelsmann und alle Spieler diesen gelungenen Start in die Heim-EM richtig ein. Denn: Die Schotten hatten die falsche Taktik gewählt. Sie konzentrierten sich total auf die Abwehr, ließen unserer Mannschaft im Mittelfeld die große Freiheit. Das soll unsere Leistung keinesfalls schmälern. Wie wir die Lücken erkannten, die Art und Weise, wie wir das genutzt haben, das war hervorragend.

Ganz besonders habe ich mich für Jamal Musiala gefreut. Sein spektakulärer Treffer zum 2:0 sollte für dieses 21 Jahre junge Supertalent ein ganz persönlicher Befreiungsschlag in der Nationalelf sein. Und ganz persönlich habe ich mich gefreut über das geradezu blinde Verständnis zwischen Toni Kroos und Ilkay Gündogan, auf das ich an dieser Stelle schon in meiner ersten Kolumne vor dem Turnier gesetzt hatte.

Ungarn darf nicht zum Stolperstein werden

Ungarn darf am Mittwochabend in Stuttgart natürlich nicht zum Stolperstein für unsere Mannschaft werden. Bei aller gebotenen Vorsicht und dem Respekt vor dem Gegner sehe ich keine sehr große Gefahr. Auch wenn es für die Ungarn nach dem 1:3 gegen die Schweiz am Mittwoch voraussichtlich schon um die letzte Chance gehen wird, die Gruppenphase erfolgreich zu überstehen. Doch nach der überzeugenden Leistung beim Start in das Turnier und angesichts der gewaltigen Begeisterungswelle um unsere Mannschaft sollten wir das Spiel mit breiter Brust angehen.

Personell sehe ich keine Veranlassung für Änderungen der Startformation. Und wenn es der Spielverlauf erlauben sollte – wie gegen Schottland -, sollte der Bundestrainer auch die Einwechselmöglichkeiten wieder optimal nutzen. Der Eintausch von fünf Spielern im Spiel gegen Schottland ist ungemein wichtig für den Zusammenhalt eines Kaders. Auch in dieser Hinsicht hat Julian Nagelsmann alles richtig gemacht.

Zu Ungarn pflege ich eine besondere Beziehung seit meiner Zeit als Co-Trainer von Nationalcoach Bernd Storck zwischen 2015 und 2017. Allein historisch bedingt sind die Ungarn nicht minder fußballbegeistert als die Deutschen. Bei der Europameisterschaft 2016 starteten wir in Bordeaux mit einem 2:0-Sieg gegen Österreich. Danach machten viele Schlachtenbummler die Nacht in Frankreich zum Tag, und in Budapest standen die Menschen förmlich Kopf. Im Achtelfinale war dann leider Endstation mit einer deutlichen 0:4-Niederlage gegen Belgien. Auf das belgische Team, das seit Jahren den Geheimfavoriten zugerechnet wird, bin ich sehr gespannt und werde mir dessen Start in das Turnier gegen die Slowakei am Montag im Frankfurter Stadion anschauen.

Deutschland gegen Spanien im Achtelfinale – das passiert hoffentlich nicht

Spanien hat am Samstag mächtig beeindruckt beim 3:0-Sieg gegen Kroatien. Umso erstaunlicher, hieß es doch vor dieser EM, der Verband versinke im Chaos, und das Nationalteam befinde sich im Umbruch. Über die geballte Wucht der Abwehrkette mit einem Altersschnitt von fast 30 Jahren und die bei Real Madrid oder dem FC Chelsea unter Vertrag stehenden Stars muss man keine Worte verlieren. Mitreißend war, welches Feuerwerk die Spanier auf den Flügeln zündeten, wie leichtfüßig und spielstark dieses Team ist. Und auf Wunderkind Lamine Yamal, der schon mit 15 Jahren sein Debüt beim FC Barcelona gab, mit 16 Jahren Nationalspieler geworden ist und erst am Tag vor dem EM-Finale seinen 17. Geburtstag feiern wird, richten sich alle Blicke. Deutschland gegen Spanien – schon im Achtelfinale könnte es zu diesem Klassiker kommen, würden beide Teams Zweiter in ihrer Gruppe. Das passiert hoffentlich nicht.

Europameister 1996: Andreas Möller mit der Trophäe.

Europameister 1996: Andreas Möller mit der Trophäe.
imago images

Andreas Möller (56) bestritt 85 Länderspiele, war Weltmeister 1990 und gehörte 1996 dem deutschen Team an, das zum bisher letzten Mal den Europameistertitel holte. Im Halbfinale verwandelte er im Elfmeterstechen gegen England den letzten, entscheidenden Elfmeter für den Einzug ins Endspiel. Im Finale durfte er aber wegen einer Gelbsperre nicht mitwirken. Andreas Möller wird bis zum Abpfiff dieser EM als kicker-Kolumnist im Einsatz sein.

“Wichtig ist, dass ter Stegen jetzt in keine Lauerhaltung tritt”

Andreas Möller wurde 1996 mit der DFB-Auswahl Europameister in England. Für den kicker schreibt er die EM-Kolumne. Der 56-Jährige erinnert sich an den damaligen Teamspirit – und sagt, was er nun von Marc-André ter Stegen erwartet.

Auch er muss jetzt das große Ganze vor Augen haben: Marc-André ter Stegen.

Auch er muss jetzt das große Ganze vor Augen haben: Marc-André ter Stegen.

Getty Images

Von Andreas Möller

Auf Initiative von Berti Vogts sind viele der Europameister von 1996 im Europapark Rust in diese Woche gestartet. Markus Babbel, Fredi Bobic, Steffen Freund, Thomas Häßler, Thomas Helmer, Jürgen Klinsmann, Andreas Köpke, Jürgen Kohler, Stefan Kuntz, Oliver Reck, Stefan Reuter und auch ich folgten wie die Co-Trainer Rainer Bonhof und Erich Rutemöller dem Ruf des früheren Bundestrainers. 28 Jahre – ist verdammt lang her seit dem letzten EM-Titelgewinn für Deutschland. Mit einem wunderbaren Film wurde uns vor Augen geführt, was wir 1996 auf dem Weg zum Triumph in Wembley geleistet hatten, damals keinesfalls als Favorit in das Turnier gestartet nach der verkorksten WM 1994 in Amerika mit dem Aus gegen Bulgarien im Viertelfinale.

EM-Finale 1996

Der Star ist die Mannschaft

Der Star ist die Mannschaft, hieß 1996 das Credo von Berti Vogts. Dazu kam ein weiterer Grundsatz: kein Blick zurück. Weder auf die 0:1-Niederlage im letzten großen Test gegen Frankreich vor dieser EM, und schon gar nicht auf 1994, gehörten doch mehrere Spieler jener WM diesem EM-Team in England an. Wir fokussierten uns im Quartier im ländlichen Mottram Hall vor den Toren von Manchester ganz auf das Auftaktspiel gegen Tschechien, das wir 2:0 durch Tore von Christian Ziege und mir gewannen.

Mit diesem Credo von Vogts, mit dem wirklich starken Zusammenhalt in dieser Mannschaft steckten wir echte Rückschläge wie die Verletzungen von Jürgen Kohler und Fredi Bobic zu Beginn des Turniers sehr gut weg, selbst der nachnominierte Jens Todt wurde mit offenen Armen empfangen.

Die Mannschaft hatte viele Führungsspieler mit ausgeprägter Siegermentalität, an Stresssituationen im Training kann ich mich nicht erinnern. Jeder fokussierte sich voll auf das Turnier und versuchte sich in den Dienst der Mannschaft einzuordnen. Letztendlich hatte Berti Vogts bei der Zusammenstellung des Kaders ein feines Gespür, die Mischung zwischen turniererfahrenen Spielern und Jüngeren funktionierte.

Ter Stegen muss Neuer vorbehaltlos unterstützen

Diesen Teamspirit sehe ich kurz vor dem EM-Start gegen Schottland auch im aktuellen Aufgebot. Die Diskussionen der vergangenen Tage um Manuel Neuer waren berechtigt und gaben Anlass zur Sorge. Persönlich finde ich es gut und richtig, dass sich Bundestrainer Julian Nagelsmann schon im Frühjahr zu Neuer bekannt und die Rollen in der Torwartfrage klar verteilt hat. Wichtig ist, dass Marc-André ter Stegen nun das große Ganze vor Augen hat und selbst in keine Lauerhaltung tritt. Wie in Stein gemeißelt muss er neben Neuer stehen, ihn unterstützen.

Dieses vorbehaltlose Zusammenwirken der Torhüter war einen Schlüssel bei unserem EM-Triumph 1996. Unter den Torhütern herrschte einen tolle Harmonie, Oliver Kahn und Oliver Reck gaben alles, damit Andy Köpke mit breiter Brust in die Spiele gehen konnte. Denn eins ist ganz klar: Jedes Turnier, jede EM und jede WM, setzt für ein erfolgreiches Abschneiden der Mannschaft einen Torwart in guter Form voraus.

Mit dem Schottland-Spiel echte Euphorie entfachen

Europameister 1996: Andreas Möller mit der Trophäe.

Europameister 1996: Andreas Möller mit der Trophäe.
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Offene Baustellen sehe ich unmittelbar vor dem EM-Auftakt nicht. Bundestrainer Nagelsmann und seine Mitstreiter haben mit Rudi Völler für klare Strukturen und eine Hierarchie in diesem Kader gesorgt. Kurz vor dem Eröffnungsspiel werden in einer Konzentrationsphase die Sinne geschärft, fährt jeder Spieler in durchaus unterschiedlicher Weise seinen Adrenalinspiegel hoch. Gegen Schottland muss das entscheidende Signal über einen starken Auftritt in großer Geschlossenheit bei hohem Tempo und permanenter Druckerzeugung gesetzt werden. Wenn das gelingt, dann wir das ganze Land auch in echte Euphorie fallen.

Andreas Möller (56) bestritt 85 Länderspiele, war Weltmeister 1990 und gehörte 1996 dem deutschen Team an, das zum bisher letzten Mal den Europameistertitel holte. Im Halbfinale verwandelte er im Elfmeterstechen gegen England den letzten, entscheidenden Elfmeter für den Einzug ins Endspiel. Im Finale durfte er aber wegen einer Gelbsperre nicht mitwirken. Andreas Möller wird bis zum Abpfiff dieser EM als kicker-Kolumnist im Einsatz sein.

“Die ständigen Hinweise auf das Sommermärchen 2006 langweilen”

Andreas Möller wurde 1996 mit der DFB-Auswahl Europameister in England. Für den kicker schreibt er die EM-Kolumne. Der 56-Jährige ist hoffnungsvoll, jedoch bereiten ihm die zahlreichen vergebenen Chancen noch Kopfschmerzen.

Europameister 1996: Andreas Möller mit der Trophäe.

Europameister 1996: Andreas Möller mit der Trophäe.

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Von Andreas Möller

Wir sollten optimistisch und selbstbewusst in die Heim-EM gehen. Die ständigen Hinweise auf das “Sommermärchen 2006” langweilen. 18 Jahre später ist die Welt eine andere. Und jedes Turnier schreibt ohnehin seine eigene Geschichte. Die Art und Weise der Spiele in diesem Jahr gibt mir die Hoffnung, dass der Funke überspringen wird. Klar, dafür muss der Start gegen Schottland in einer Woche erfolgreich sein, dann werden die Fans voll abgehen. Auch wenn die drei letzten Turniere von der Nationalelf in den Sand gesetzt worden sind: Deutschland steht immer im Kreis der Favoriten, besonders bei dieser EM im eigenen Land. Natürlich muss die Mannschaft alles erspielen und erkämpfen, da sind wir auf einem guten Weg.

Podcast

EP03: Sete a um

32:29 Minuten

alle Folgen

Julian Nagelsmann hat aus den Erkenntnissen der ersten Länderspiele nach seinem Amtsantritt im September 2023 noch rechtzeitig die richtigen Entscheidungen getroffen. Die Aufgabenverteilung ist klar geregelt und von den Spielern akzeptiert, die Tendenz zu einer nunmehr gewollten Hierarchie ist mehr und mehr erkennbar. Auf diesem Weg hat er nicht stur an einer Idee festgehalten, war hellhörig und hat sich mit Sicherheit selbst reflektiert. Und erkannt, dass die Mannschaft ein anderes Gesicht benötigt.

Mit dem Comeback von Toni Kroos hat er genau den richtigen Nerv getroffen. Er hat diesem Weltklasse-Mittelfeldspieler schmackhaft gemacht, bei dieser EM vorbehaltlos die Führungspersönlichkeit der Mannschaft zu sein, auch Kapitän Ilkay Gündogan zähle ich als verlängerten Arm des Trainers dazu. Diese beiden Leader dürfen nicht ausgewechselt werden, auch schwächere Phasen im Spiel müssen zugestanden werden.

“Mittelstädt hat voll eingeschlagen”

Antonio Rüdiger, Jonathan Tah und Robert Andrich können jedem Top-Spieler den Zahn ziehen. Mit Maximilian Mittelstädt hat er einen klassischen Linksverteidiger dazugenommen – zur Überraschung vieler Experten. Der Junge hat voll eingeschlagen. Joshua Kimmich, Leroy Sané und Kai Havertz bringen geballte internationale Erfahrung ein, Florian Wirtz kann nach seiner fantastischen Saison mit Meister und Pokalsieger Bayer Leverkusen einer der ganz großen Stars dieser EM werden. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir in den Gruppenspielen gegen Schottland, Ungarn und die Schweiz spielbestimmend sein werden und uns letztendlich durchsetzen.

“Die zahlreichen vergebenen Chancen bereiten mir noch Kopfschmerzen”

Leichte Kopfschmerzen bereiten mir noch die zahlreichen Chancen, die wir für einen Torerfolg benötigen. Eben auch nach dem 0:0 gegen die Ukraine am Montag. Da waren Tore überfällig – und wurden nicht erzielt. Das weckte Erinnerungen an das erste deutsche Spiel gegen Japan bei der WM in Katar, das wir lange Zeit dominiert hatten. Aber wir vergaben Torchancen en masse, verloren 1:2. Das war der Anfang vom Ende beim Aus nach der Gruppenphase. Trotz leichter Kopfschmerzen glaube ich: Geschichte wiederholt sich nicht!