Erst aussortiert, dann der Held: Tigges erlebt eine “Gefühlsexplosion”

Bislang erlebte er eine Saison zum Vergessen. Doch beim 2:1-Sieg in Bochum brachte Steffen Tigges den 1. FC Köln zurück ins Spiel. Nun könnte er wieder näher an das Team heranrücken.

Schrei der Erleichterung: Steffen Tigges erzielte gegen den VfL Bochum den 1:1-Ausgleich - sein erster Treffer in dieser Saison.

Schrei der Erleichterung: Steffen Tigges erzielte gegen den VfL Bochum den 1:1-Ausgleich – sein erster Treffer in dieser Saison.

picture alliance / Kirchner-Media

Als Trainer Timo Schultz im Trainingslager des 1. FC Köln im spanischen Algorfa über seinen Stürmer Steffen Tigges sprach, fühlten sich viele Beobachter vermutlich an Helmut Schmidt erinnert. “Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen”, hatte der 2015 verstorbene Ex-Bundeskanzler einst gesagt. Und nun schien es so, dass auch Schultz im kicker-Interview einer ziemlich unrealistischen Vorstellung anhing. “Beide werden noch extrem wichtig werden”, prophezeite Schultz seinem Schützling Tigges und dessen Stürmer-Kollegen Florian Dietz, “und wenn es nur eine entscheidende Aktion ist.”

Davon aber schien Tigges so weit entfernt wie die Bayern in dieser Saison von der Meisterschale. Bei seinen Kurzeinsätzen für die Kölner hatte der Stürmer teilweise slapstickartige Auftritte hingelegt, einfachste Zuspiele gefühlt bis in den Rhein verspringen lassen und deswegen immer mal wieder auf der Tribüne gesessen. Sein beeindruckend schlechter Notenschnitt in den fünf bewerteten Partien in dieser Saison: 4,9. Doch am vergangenen Samstag wurde Schultz’ Vision Realität: Vorbildlich köpfte der 1,93 Meter große Angreifer eine Ecke von Florian Kainz am kurzen Pfosten zum 1:1 gegen den VfL Bochum ein, schrie sich danach den ganzen Frust von der Seele und legte mit seinem Treffer den Grundstein für den 2:1-Sieg in letzter Minute.

Schultz sprach vom Zweiersturm – und setzte auf andere

“Das war eine Gefühlsexplosion”, sagte Tigges hinterher, “weil der Knoten geplatzt ist und wir uns in eine Position gebracht haben, dass wir wieder alles in der eigenen Hand haben.” Gesprochen hatte er so über die Lage des 1. FC Köln, doch der erste Teil seines Statements hätte auch wunderbar zu seiner persönlichen Situation gepasst. Denn die Krise der Geißböcke verläuft in dieser Saison parallel zu der von Steffen Tigges.

17-mal hatte Tigges in der vergangenen Spielzeit unter Trainer Steffen Baumgart in der Startelf gestanden, sechs Tore sowie zwei Vorlagen erzielt und beispielsweise beim spektakulären 7:1-Triumph gegen Werder Bremen mit einem 45-Meter-Kunstschuss geglänzt. 1594 Einsatzminuten waren das insgesamt, in dieser Saison kommen erst 448 zusammen. Und das, obwohl Stamm-Mittelstürmer Davie Selke immer wieder verletzt fehlte, ebenso lange Zeit Luca Waldschmidt. Tigges aber blieb außen vor: Obwohl Schultz wenige Tage nach seinem Amtsantritt im Januar noch von einem Zweiersturm Tigges/Dietz sprach, setzte er lieber auf andere Angreifer. Erst auf Jan Thielmann, der zuletzt zum Rechtsverteidiger umgeschult wurde. Dann schließlich auf Sargis Adamyan, der zuvor ebenfalls aussortiert worden war und nun Tigges in die Rolle des dritten oder vierten Stürmern verdrängte.

Der “Tigginator” hegt keinen Groll

“Mir hilft es, so eine Situation nicht so an mich ranzulassen”, sagte Tigges, halb liebevoll, halb spöttisch oft “Tigginator” genannt, nach seinem ersten Saisontreffer gegen den VfL. Die Kollegen hätten ihm immer den Rücken gestärkt. “Von daher freue ich mich, dass ich etwas an die Mannschaft und die Fans zurückgeben konnte.” Bescheidene Worte, bei denen man Tigges durchaus glaubt, dass kein Groll den Rückblick auf die vergangenen Wochen trübt.

Wie positiv der Stürmer bei aller sportlichen Misere mit dem persönlichen Tief umging, zeigte er im Training und abseits des Platzes. “Immer positiv, immer optimistisch”, sei der Blondschopf gewesen, schilderte Schultz und lobte: “Er ist auch im Training jemand, der immer Gas gibt und sich für die Mannschaft opfert.” Als ballsicherer Wandspieler – den sonst der nun erneut verletzte Selke gibt – habe Tigges ebenso Qualitäten wie in der Luft. “Da hat er ein Ausrufezeichen gesetzt, so stellt man sich das vor”, sagte Schultz und ließ sich den Hinweis auf seine eigene Ankündigung nicht nehmen: “Wir haben immer gesagt, dass er seine Stärken einbringen kann.”

Wer stürmt neben Adamyan?

Die kommenden Kölner Aufgaben

Etwa auch in den kommenden Partien? Selke jedenfalls muss ersetzt werden, aber mit Waldschmidt, der das entscheidende 2:1 köpfte, ist ja ein weiterer Konkurrent wieder fit. Und gegen den FC Bayern, der den 1. FC Köln am Samstag in der Allianz-Arena empfängt, dürfte Schultz eher wieder auf Tempo in der Spitzen neben dem unumstrittenen Adamyan setzen.

Gut möglich aber, dass Tigges noch einmal wichtig wird: Wenn beispielsweise gegen Darmstadt oder Mainz im Saisonfinale mehr Ballbesitz auf den 1. FC Köln zukommt und der Schlaks im Strafraum gefragt ist. “Man darf diese Mannschaft nicht unterschätzen, weil sie einen Zusammenhalt und einen Charakter hat, der einzigartig ist”, schwärmt Tigges. Das klang vor allem wie ein großes Danke für die Unterstützung der Kollegen. Ein wenig aber auch nach einer Ankündigung: Mit dem 1. FC Köln wird im Abstiegskampf noch zu rechnen sein.

Jim Decker

Für St. Paulis Beifus ist die Saison beendet

Das 2:3 auf Schalke bedeutete nicht nur das Ende aller Aufstiegsträume in St. Pauli, es war zugleich das Saisonende für Marcel Beifus.

Verabschiedet sich frühzeitig aus der Saison: Marcel Beifus.

Verabschiedet sich frühzeitig aus der Saison: Marcel Beifus.

IMAGO/KBS-Picture

Der 19-Jährige hatte in der 81. Spielminute nach einem harten Foul an Florian Flick die Rote Karte gesehen. Nun wurde der Innenverteidiger vom DFB-Sportgericht “im Einzelrichterverfahren nach Anklageerhebung durch den DFB-Kontrollausschuss wegen eines rohen Spiels gegen den Gegner mit einer Sperre von zwei Meisterschaftsspielen der Lizenzligen belegt”.

Damit ist klar, dass Beifus sowohl das Saisonfinale am kommenden Sonntag gegen Fortuna Düsseldorf (LIVE! ab 15.30 Uhr bei kicker) als auch das erste Ligaspiel in der kommenden Zweitliga-Spielzeit verpassen wird.

Da die Kiezkicker dem Urteil zugestimmt haben, ist dieses rechtskräftig. Beifus bestritt 2021/22 elf Ligaspiele für St. Pauli, erzielte dabei ein Tor und bringt es auf einen kicker-Notenschnitt von 4,25.

St. Pauli: Der Absturz. Die Gründe. Die Folgen.

Der Herbstmeister FC St. Pauli hat durch eine enttäuschende Rückrunde die Chance auf den Aufstieg vergeben. Der unbefriedigende Saisonausklang wird Veränderungen nötig machen.

St. Paulis Coach Timo Schultz kündigte eine eingehende Analyse an, beim Kiez-Klub stehen die Zeichen auf Veränderung.

St. Paulis Coach Timo Schultz kündigte eine eingehende Analyse an, beim Kiez-Klub stehen die Zeichen auf Veränderung.

Als der Aufstiegskampf noch nicht verloren war, hat Andreas Bornemann vor zwei Wochen diese These aufgestellt: Eine schlechte Saison, sagte der Sportchef des FC St. Pauli, könne es nicht mehr werden. Das liegt jetzt, da der souveräne Herbstmeister in einer auf allen Ebenen enttäuschenden Rückrunde krachend gescheitert ist, im Auge des Betrachters – fraglos aber wird die Spielzeit 2021/22 als eine enttäuschende in die Vereinshistorie eingehen. Und als eine der verpassten Möglichkeiten.

Vortrag auf Schalke komprimierte Zusammenfassung einer gesamten Saison

Der Vortrag auf Schalke am Wochenende war dabei so etwas wie die komprimierte Zusammenfassung. 90 Minuten als Spiegelbild einer gesamten Saison: Zur Halbzeit vorn mit der Aussicht, alles in der Hand zu haben, und am Ende in der Rolle des bitteren und verdienten Verlierers. So wie sich St. Paulis Profis nach einer 2:0-Halbzeitführung am Samstag mit tölpelhaften Fehlern und zwei Platzverweisen selbst ein Bein stellten, stand sich auch die Mannschaft nach 36 Punkten in der ersten Halbserie selbst im Weg. Einzelne, wie Torwart Nikola Vasilj, Aufsteiger Jakov Medic oder Torjäger Guido Burgstaller, verloren ihre grandiose Vorjahres-Form, wieder andere mit auslaufenden Verträgen, rückten die eigene Zukunft in den Vordergrund und erzeugten ein Störfeuer, das spätestens seit Anfang März, also in der entscheidenden Saisonphase, loderte und letztlich auch von den Verantwortlichen nicht mehr zu löschen war.

Timo Schultz hat eine eingehende Analyse angekündigt. “Wir werden genau hinschauen, warum wir in der Hinrunde so gut waren und warum es in der Rückrunde nicht mehr so geklappt hat. Da werden wir unsere Erkenntnisse rausziehen.” Zur Ursachenforschung gehört auch, an welcher Stelle der Trainer korrigierend hätte eingreifen können. Vor dem Aufbruch ins Wintertrainingslager hatte der 44-Jährige angekündigt, das Hauptaugenmerk darauf zu legen, wieder defensiv kompakter zu werden. Herausgekommen sind 26 Gegentreffer in bislang 16 Partien – nur drei Teams kassierten mehr. Hinzu kommt: Als sich die Gegner auf St. Paulis Offensivstil eingestellt hatten, fehlten Lösungsansätze. “Die Rückserie gibt Anlass, kritisch zu sein”, verhehlt Schultz nicht.

Schultz: “Müssen uns ein Stück weit neu erfinden”

Der Coach ahnt, “dass wir uns ein Stück weit neu erfinden werden müssen.” Weil der unbefriedigende Saisonausklang Veränderungen nötig macht, die durch Abschiede langjähriger Gesichter wie Philipp Ziereis, Christopher Buchtmann, Rico Benatelli oder James Lawrence auch vollzogen werden. Aber weil auch jene, die St. Pauli gern halten würde, nach Neuem streben. Daniel-Kofi Kyereh etwa, der einzige Profi, der in dieser Saison in beiden Halbserien Bundesligaformat nachgewiesen hat, will ins Oberhaus. Und weil der Vertrag des 26-jährigen Spielmachers nur noch bis 2023 läuft, wird Bornemann diesem Wunsch stattgeben müssen, um finanziell nicht leer auszugehen wie zum Beispiel bei Eigengewächs Finn Ole Becker, den es nach Hoffenheim zieht.

“Wir werden einen neuen Anlauf nehmen”, sagt Schultz. Dieser könnte beschwerlich werden, wenn die anstehenden Veränderungen die zu erwartende Zeit in Anspruch nehmen. Womöglich wird den verbleibenden Protagonisten dann nochmals so richtig klar, wie sehr 2021/22 eine Saison der verpassten Möglichkeiten war.

Sebastian Wolff

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“Wir werden einen neuen Anlauf nehmen”, sagt Schultz. Dieser könnte beschwerlich werden, wenn die anstehenden Veränderungen die zu erwartende Zeit in Anspruch nehmen. Womöglich wird den verbleibenden Protagonisten dann nochmals so richtig klar, wie sehr 2021/22 eine Saison der verpassten Möglichkeiten war.

Sebastian Wolff