Quo vadis, Italien? “Die wahre Magie” des EM-Titelverteidigers

Die EM-Gruppe schwer, die letzten Jahre abgesehen vom überraschenden Titel in England hart, die alten Recken weg, der neue Trainer noch kein Jahr im Amt. Und nun, Italien? Die von Luciano Spalletti trainierte Squadra Azzurra will sich in Deutschland finden.

Glaubt fest daran, auch bei der EM 2024 erfolgreich sein zu können: Italiens Nationaltrainer Luciano Spalletti.

Glaubt fest daran, auch bei der EM 2024 erfolgreich sein zu können: Italiens Nationaltrainer Luciano Spalletti.

Getty Images

Hände hoch! Wer hat gedacht, dass sich die italienische Nationalmannschaft bei der wegen Corona verschobenen Europameisterschaft 2021 zum Titelaspiranten und am Ende auch in einem hochspannenden Finale gegen die englische Auswahl zum Titelträger entwickeln würde? Sicherlich die wenigsten, abgesehen von den heißblütigen Tifosi.

Und doch standen damals in London die Azzurri um Recken wie Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci ganz oben, thronten über dem europäischen Rest. “Europa ist unser“, hatte damals La Repubblica geschrieben. “Ein Märchen, der zweite EM-Triumph nach 1968. Ein verrückter Ritt”, so der Corriere dello Sport.

Fast genau drei Jahre sind seitdem vergangen, im Fußball eine Ewigkeit – was auch an Italiens Werdegang seither festzumachen ist.

Die WM 2022 in Katar? Verpasst wie schon vier Jahre zuvor das Turnier in Russland und damit der wiederholte GAU (“Eine Katastrophe für Italien!”) für das den Fußball atmende Land. Der damalige Erfolgstrainer Roberto Mancini? Nach internen Querelen und einer Schlammschlacht Richtung Geldsegen in Saudi-Arabien “entflohen”. Obendrein der aufwühlende Wettskandal um Spieler wie Sandro Tonali und der Fakt, dass sich die Auswahl von Mancini-Nachfolger Luciano Spalletti in der EM-Qualifikation erneut schwer getan hat.

Spallettis Herz “schlägt vor Vorfreude”

Am Ende des Tages aber ist Italien als Titelverteidiger dabei in Deutschland – und Coach Spalletti, der als Napoli-Meistertrainer von 2023 als Wunschkandidat des Verbands ausgemacht sowie gewonnen worden ist und für einen offensiven Ansatz steht, sieht nun den Start einer erfolgreichen Reise. “Wir müssen vergessen, dass wir wohlhabend sind und alles haben“, hat der 65-Jährige schon Ende Mai mitgeteilt.

Spalletti geht dabei mit Leidenschaft an seine Aufgabe, auch wenn er gern eine längere Einarbeitungszeit (erst seit September 2023 im Amt) gehabt hätte: “Ich bin in diese Rolle gedrängt worden, ich hätte mehr Zeit haben können. Aber das geht jedem so. Mein Herz schlägt aber jetzt vor Vorfreude und vor dem, was wir erleben werden. Ich möchte glückliche Menschen sehen. Wir möchten, dass die Menschen in unserem Land zufrieden sind, wenn wir zurückkehren – wir möchten sie berühren.” Heißt auch: neben erfolgreichem Fußball auch schöne Darbietungen anbieten.

So soll die Squadra Azzurra laut Einteiler Spalletti zwar geordnet daherkommen mit stabiler Vierer- oder sogar Dreierkette, daneben aber auch Freiraum für die Kreativen anbieten: “Die besten Teams wissen, wie man sicher steht und trotzdem unberechenbar ist.”

Wer tritt in die großen Abwehrfußspuren?

Spieler wie Nicolo Barella von Serie-A-Meister Inter verkörpern dabei die schöne Darbietung des Fußballs, auch der nach seiner siebenmonatigen Sperre wegen des Wettskandals überraschend ins Aufgebot geholte Nicolo Fagioli (“Die Spielsucht hatte mein Leben verschlungen, sie war zu einem Alptraum geworden”). Spalletti hofft, dass der 23-jährige Juve-Profi nach seiner langen Sperre Frische mitbringt. “Er hat diese Qualität und diese Inspiration”, lobte der Coach den kreativen Mittelfeldspieler jüngst im Mediengespräch.

Hinten sollen dagegen Akteure wie Alessandro Bastoni (25, Inter), Alessandro Buongiorno (25, Torino) oder Alternativen wie Gianluca Mancini (28, Roma), Nachrücker Federico Gatti (25, Juve) sowie Riccardo Calafiori (22, Atalanta Bergamo) zu den neuen Chiellinis und Bonuccis aufsteigen. Alles gepaart mit der Erfahrung von routinierten Kräften wie Giovanni di Lorenzo (30, Napoli) oder Matteo Darmian (34, Inter) – ungünstig in diesem Bereich, dass mit Oldie Francesco Acerbi (36, Inter) ein potenzieller Anker verletzungsbedingt weggebrochen ist.

Donnarumma, Jorginho und Co. wollen später “nichts bereuen”

Doch was genau kann am Ende des Tages von den Azzurri erwartet werden, auch weil die EM-Gruppe B abgesehen von Auftaktgegner Albanien (Samstag ab 21 Uhr, LIVE! bei kicker) mit Kroatien und Spanien bretthart daherkommt? Und auch weil Italiens Angriffsabteilung abgesehen von Aushängeschild Federico Chiesa, der sich allerdings oft festrennt und in seinen Leistungsnachweisen schwanken kann, auf dem Zettel nicht gerade sehr angsteinflößend wirkt. Stürmer wie der sicherlich als Gegenspieler unbequeme Gianluca Scamacca von Europa-League-Sieger Atalanta Bergamo oder Mateo Retegui als Entdeckung von Ex-Nationaltrainer Roberto Mancini müssen sich auf hohem Niveau erst noch beweisen.

Doch an Aufgaben wächst man, weiß vor allem Torwartlegende Gianluigi Buffon. Der heute 46-Jährige ist seit Anfang August 2023 Teil des Teams rund um die italienische Auswahl – als Nachfolger des verstorbenen Gianluca Vialli. Stabsmitglied Buffon glaubt fest daran, dass Italien in seiner Außenseiterrolle – ähnlich wie 2021 oder auch mit ihm bei der WM 2006, als kurz vor dem Turnier ein Manipulationsskandal die gesamte Serie A und die Nationalmannschaft erschüttert hatte – auf ein Neues aufgehen kann. “Italien anzufeuern, ist immer emotional”, so der 46-Jährige. “Es ist das einzige Ereignis, bei dem wir alle zu Brüdern werden. Das ist die wahre Magie der Nationalelf.”

Auf magische Momente und einen langen Turnierverlauf hofft auch Kapitän Gianluigi Donnarumma. Der 25-jährige PSG-Keeper und Buffon-Erbe hat im Gespräch mit der UEFA Optimismus versprüht und Kritik ausgeräumt, der derzeitige Kader verfüge über zu wenig Qualität auf absolutem Top-Niveau gerade in Anbetracht zu kommenden Gegnern wie Kroatien oder Spanien oder potenziellen Duellen mit England oder Frankreich: “Die Mannschaften, die gegen uns antreten, werden sicherlich auch zögern, total mutig oder offensiv gegen Italien zu spielen. Denn wir haben eine großartige Geschichte und auch eine großartige Mannschaft. Sie werden sich gut auf die Spiele vorbereiten müssen, denn: Es wird für alle schwer, gegen uns anzutreten.”

Natürlich seien Teams wie Frankreich oder England “unbestreitbar sehr stark, doch wir haben auch ein Wörtchen mitzureden. Es gibt am Ende des Tages bei solch einem Turnier keinen Favoriten. Und wir spielen um alles, wollen mitmischen und das Finale erreichen.” Das unterstrich auch Aufbauspieler Jorginho, seines Zeichens Europas Fußballer des Jahres 2021: “Bei solchen Turnieren herrscht immer Druck. Wir begegnen dem aber mit Ruhe und dem Wissen, was wir haben und was wir können. Sicher, die Gruppe ist schwer. Aber wir sind eine Einheit aus Spielern, die zusammenwachsen und sich jeden Tag verbessern will.” Was sich der 32-jährige Arsenal-Profi zudem erhofft: “Dass wir alle zusammenhalten und unser Bestes geben, um es später nicht bereuen zu müssen”.

Italien: Schlechte Figur oder für eine Überraschung gut?

Azzurri-Coach Spalletti erkennt derweil auch im Fakt, als amtierender EM-Champion anzureisen und trotzdem keiner der top-gehandelten Favoriten zu sein, eine Chance: “Titelverteidiger zu sein, ist für uns ein Ansporn. Auch 2021 hat Italien auf dem Papier nicht zu den stärksten Teams gezählt.” Auch 2006 nicht, als bekanntermaßen etwa Deutschland im hochdramatischen Halbfinale ausgeknockt und später in Berlin Frankreich um Zinedine Zidane (Rote Karte nach Kopfstoß in der Verlängerung) im Elfmeterschießen geschlagen wurde.

Gianluigi Buffon

Hat die italienischen Fans in Deutschland als zwölften Mann fest mit eingerechnet: Legende Gianluigi Buffon.
IMAGO/Giuseppe Maffia

Doch was kann am Ende des Tages wirklich erwartet werden von Italien, zumal Spieler wie Barella, Fagioli und Davide Frattesi (1:0-Siegtorschütze beim Test gegen Bosnien) aktuell noch mit Wehwehchen zu kämpfen haben? “Wir haben gerne und oft eine schlechte Figur gemacht, wenn wir von der Pole Position gestartet sind”, findet Buffon, der als Delegationschef der Nationalelf in einer anderen Rolle und doch wieder hautnah dabei ist. “Wenn wir dagegen eine Reihe dahinter gestartet sind, waren wir oft für eine Überraschung gut.”

Dabei hofft der Weltmeister von 2006 auch auf die wie damals in Deutschland vorherrschende Unterstützung der vielen in Deutschland lebenden Italiener. Beim öffentlichen Mannschaftstraining am Dienstag sind allein rund 4000 Tifosi in Iserlohn am Start gewesen, um die Mannschaft anzufeuern. “Als wir 2006 in Deutschland zu Gast waren, hatten wir das Gefühl, auf heimischem Boden zu spielen – und das wird auch bei dieser EM der Fall sein. Die ständige Präsenz, die bedingungslose Zuneigung und die Unterstützung in jeder Minute geben uns das Gefühl, zu Hause zu spielen”, so der im letzten Jahr nach Jahrzehnten als Aktiver in den Ruhestand gegangene Keeper.

Zu Buffons Karriereende 2023: “Er war der Größte” und hinterlässt eine Enzyklopädie an Erfolgsgeschichten