Schlotterbecks Kampf gegen die Schatten der WM

Lange wurde Nico Schlotterbeck von Julian Nagelsmann links liegengelassen. Im EM-Achtelfinale gegen Dänemark kommt der Verteidiger zum Einsatz – und muss auch gegen die Schatten der Vergangenheit ankämpfen.

Die Trainingseinheit am Donnerstag war gerade beendet, als über Herzogenaurach ein Wolkenbruch niederging und den Übungsplatz unter Wasser setzte. “Das war schon heftig”, berichtete Schlotterbeck bei der Pressekonferenz, an der er nach eigenem Bekunden eher widerwillig und nur auf sanften Druck von DFB-Pressesprecherin Franziska Wülle teilnahm: “Sehr gerne mache ich das nicht. Franzi hat mich ein bisschen gezwungen.” Bis dato hatte der Abwehrspieler von Borussia Dortmund Gesprächsanfragen von Medienvertretern konsequent mit dem Hinweis abgelehnt, er wolle erst nach dem Finale reden.

Auf dem Weg zu diesem sportlichen Traumziel wird Schotterbeck am Samstag im Achtelfinale gegen Dänemark eine bedeutendere Rolle ein als in den drei Gruppenspielen zuvor. Durch die Gelbsperre von Jonathan Tah kommt er ausgerechnet im heimischen Signal Iduna Park zum ersten Startelf-Einsatz im Turnier. Offen ist weiterhin, an wessen Seite er verteidigen soll. Abwehrchef Antonio Rüdiger, der sich am Sonntag beim 1:1 gegen die Schweiz eine Oberschenkelzerrung zugezogen hatte, spulte auch am Mittwoch nur ein individuelles Aufbauprogramm ab. Das Abschlusstraining am Freitag soll Aufschluss darüber geben, ob der Champions-League-Gewinner von Real Madrid auflaufen kann.

“Ich hoffe, dass es bei ihm reicht”, sagte Schlotterbeck, der aus eigenen Erfahrungen weiß, was gerade in Rüdiger vorgeht: “Die Verletzung ist nicht leicht aus dem Kopf zu bekommen.” Sollte Rüdiger ausfallen, käme voraussichtlich Waldemar Anton zum Zug, der vor einem Wechsel nach Dortmund steht und dann dauerhaft mit Schlotterbeck verteidigen soll.

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In jedem Fall kommt es am Samstag im Abwehrzentrum zu einer Konstellation, die keine oder nur wenig und dann stets sieglose gemeinsame Erfahrung vorweist. Schlotterbeck und Rüdiger bestritten zweimal die Innenverteidigung in einer Viererkette, wobei sie beim denkwürdigen 1:2 zum WM-Auftakt in Katar gegen Japan eine eher unheilvolle Allianz bildeten. Gleich zu Beginn der Pressekonferenz wurde er darauf angesprochen, und Schotterbecks Miene verriet, dass er die Frage erwartet hatte und genau deshalb eigentlich auch nicht kommen wollte. “Ich habe viel Kritik abbekommen, kann aber damit umgehen. Ich hoffe, dass es nicht wieder passiert”, entgegnete er.

Gut sieben Monate vor der WM hatten Rüdiger und Schlotterbeck in Amsterdam beim 1:1 im Test gegen die Niederlande deutlich besser harmoniert. Beim dürftigen 3:3 vor einem Jahr in Bremen gegen die Ukraine waren die beiden Verteidiger Bestandteil einer arg wackligen Dreierkette. Und auch beim letzten gemeinsamen Auftritt setzte es vor gut neun Monaten gegen Japan – diesmal mit Schlotterbeck als Linksverteidiger – eine Vielzahl von Aussetzern und Fehlern, die zu einer 1:4-Heimpleite und zur Ablösung von Hansi Flick als Bundestrainer führte.

Anschließend hatte Nagelsmann das Zepter übernommen, die Nichtberücksichtigung von Schlotterbeck auf der USA-Reise im Oktober und den November-Länderspielen gegen Österreich und die Türkei indes damit begründet, der Dortmunder müsse erst einmal konstantere Leistungen bringen.

“Natürlich zweifelt man da”

Schlotterbeck kam – auch dank der Hilfe eines persönlichen Video-Analysten – der Aufforderung nach, wurde aber auch bei Nagelsmanns Umbruch vor den März-Länderspielen gegen Frankreich (2:0) und die Niederlande (2:1) nicht berücksichtigt. “Natürlich zweifelt man da”, räumte Schlotterbeck seine Sorgen um die EM-Teilnahme ein. Erst die starken Auftritte in der Champions League gegen Atletico Madrid, Paris St. Germain und Real Madrid brachten den Bundestrainer zum Umdenken und bescherten Schlotterbeck – im Gegensatz zu seinem gleichfalls sportlich überzeugenden Teamkollegen Mats Hummels – die Aufnahme in den 26-Mann-Kader.

“Er hat Konstanz erwartet und ich glaube, dass ich sie gebracht habe. Deshalb bin ich dabei”, sagt Schlotterbeck, “ich bin happy und stolz auf das, was ich geschafft habe.” In der Innenverteidiger-Hierarchie hat er sich vorbei an Anton und dem Frankfurter Robin Koch auf Platz drei hinter die beiden Platzhirsche Rüdiger und Tah geschoben.

Schlotterbeck und Anton verfügen noch über keinerlei gemeinsame Spielpraxis. Als Anton im März beim 2:0 gegen Frankreich debütierte, zählte Schlotterbeck noch nicht zum Kader. Und als der Stuttgarter beim 0:0 im EM-Test gegen die Ukraine erstmals in der Startelf auflief, hatte der Dortmunder noch Sonderurlaub nach dem verlorenen Champions-League-Finale. Für Anton und Koch wäre ein Einsatz gegen die Dänen der erste EM-Auftritt, beide sind neben Benjamin Henrichs die einzigen von Nagelsmann im Turnier noch nicht berücksichtigten Feldspieler.

Oliver Hartmann