Rangnick im Interview: “Ich wollte das hier nicht gefährden”

Rangnick im Interview: “Ich wollte das hier nicht gefährden”

Lieber weiterhin Österreich als Deutschlands Rekordmeister: Teamchef Ralf Rangnick (65) spricht vor dem EM-Auftakt im kicker-Interview über den Glauben an sich selbst, die Favoriten – und Uli Hoeneß.

Bereits im Januar gibt Ralf Rangnick dem kicker die Zusage für ein Interview unmittelbar vor der Europameisterschaft in Deutschland. Da ahnt Österreichs Teamchef noch nicht, wie turbulent die nächsten Monate für ihn verlaufen würden, welch schwere Entscheidung er würde treffen müssen. Jetzt sitzt der 65-Jährige im Foyer des Dilly Resort in Windischgarsten, dem Teamhotel während der EM-Vorbereitung, und steht eine Stunde lang Rede und Antwort.

Wie viel Vorfreude steckt in Ihnen, Herr Rangnick – und wie viel Anspannung?

Die Vorfreude ist im Moment riesengroß – bei allen von uns. Man spürt seit Beginn der Vorbereitung, dass wir es kaum erwarten können, bis es losgeht. Für Anspannung besteht gar kein Anlass. Die kommt, wenn überhaupt, fünf Minuten vor Anpfiff.

Wie groß ist Ihr Vertrauen in das Fundament, das Sie in den vergangenen Monaten aufgebaut haben?

Es ist ja nicht nur die Tatsache, dass wir die EM-Qualifikation geschafft haben, sondern auch die Art und Weise unserer Auftritte sowohl in der Quali, aber auch in den Testspielen gegen Deutschland, Italien und die Türkei. Wir wissen: Wenn wir das auch bei der EM auf den Platz bringen, ist es nicht so einfach, gegen uns zu spielen.

Durch die Resultate haben Sie mit Ihrer Mannschaft eine riesige Euphorie und Erwartungshaltung in Österreich aufgebaut. Wie nehmen Sie dies wahr?

Wir waren schon sehr positiv überrascht, dass zu unserem ersten Training in Windischgarsten bei strömendem Regen 3000 Fans kamen. Solche Verhältnisse habe ich zuletzt in meiner ersten Amtszeit bei Schalke erlebt. Das zeigt, wie begeistert die Menschen von der Nationalmannschaft sind. Das ist okay, ich sehe darin auch gar kein Problem.

Aber?

Aber wir können schon richtig einschätzen, dass wir in der mit Abstand schwierigsten Gruppe sind. Das ist nicht meine subjektive Meinung, sondern spiegelt die Durchschnitte der UEFA-Koeffizienten wider. Da steht unsere Gruppe ganz oben, und dann kommt erst mal eine ganze Weile nichts. Wir haben schon eine richtig schwere Gruppe erwischt, aber das gilt für die anderen auch: Ich glaube nicht, dass unsere Gegner erfreut sind, gegen uns zu spielen – so selbstbewusst sind wir schon. Es wird eine große Herausforderung. Wenn wir in der Gruppe weiterkommen wollen, müssen wir am absolut obersten Level performen. Wenn wir das aber schaffen und weiterkommen, dann kommen nicht mehr viel schwierigere Gegner.

Wenn ich am 1. Mai zugesagt hätte, wäre ich ja nicht ab 15. Juli Trainer des FC Bayern gewesen, sondern ab dem 1. Mai.

Ralf Rangnick

Was zeichnet Ihr Team aus?

Die absolute Bereitschaft, sich im Sinne der Mannschaft einzubringen und sich nicht so wichtig zu nehmen – man kann es als Familie beschreiben. Wenn man sieht, wie sich die Spieler nach zwei Monaten ohne Länderspiel begrüßt haben und wie sie miteinander umgehen, hat man wirklich das Gefühl, dass sie sich schon ewige Zeiten kennen. Dieser Umgang ist schon besonders, dieser Zusammenhalt macht uns richtig stark. Und dieser Zusammenhalt ist auch die Grundvoraussetzung für die Art, wie wir spielen.

War dieser besondere Spirit, von dem Sie eben sprachen, der Grund, warum Sie das Angebot, Trainer des FC Bayern zu werden, nicht angenommen haben?

Das war einer der Hauptgründe.

Was hielt Sie noch davon ab?

Die Vorstellung, zweieinhalb Monate Trainer von beidem zu sein. Wenn ich am 1. Mai zugesagt hätte, wäre ich ja nicht ab 15. Juli Trainer des FC Bayern gewesen, sondern ab dem 1. Mai. Und da ist mir schon klar geworden, dass das nicht geht, ohne dass irgendetwas darunter leidet. Wir haben hier in Österreich zwei Jahre investiert, um dahin zu kommen, wo wir jetzt sind. Das wollte ich nicht gefährden. Ich bin mir zwar sicher, dass es jeder meiner Spieler verstanden hätte, wenn ich es gemacht hätte. Ich glaube trotzdem, dass es energetisch und atmosphärisch etwas mit der Mannschaft gemacht hätte. Spieler merken immer sehr genau, ob ihr Trainer noch in der Mitte und in seiner Balance ist – oder ob er abgelenkt und nicht mehr so fokussiert ist.

Wie schwer ist es Ihnen gefallen, diese vielleicht einmalige Chance in Ihrer Trainerlaufbahn nicht wahrzunehmen?

Es war eine der schwierigsten beruflichen Entscheidungen, die ich in meiner Karriere bisher treffen musste. Beim FC Bayern sind schon vier ehemalige Spieler von mir im Kader und vier Mitarbeiter, mit denen ich schon früher zusammengearbeitet habe. Das hat das Ganze schon besonders gemacht, und das bei einem der größten Vereine in Europa. Dass du so etwas vorfindest, passiert nicht so oft. Deswegen habe ich mich damit schon sehr ernsthaft auseinandergesetzt. Und ich möchte an dieser Stelle noch mal betonen, dass es keine Entscheidung gegen den FC Bayern war.

Ralf Rangnick

Ralf Rangnick an der Seitenlinie der Österreicher beim Spiel gegen die DFB-Elf Ende des vergangenen Jahres.
Getty Images

Öffentlich wurde spekuliert, dass Uli Hoeneß mit seinen Aussagen in einer FAZ-Talkrunde Sie verschreckt habe.

Ich kann an dieser Stelle versichern, dass das überhaupt keinen Einfluss auf meine Entscheidung hatte. Ich sage sogar: Uli Hoeneß wäre einer der Gründe gewesen, es zu tun und dort hinzugehen. Weil ich glaube, dass wir in unseren Sichtweisen gar nicht so verschieden sind.

Glauben Sie, dass Ihre Entscheidung einen zusätzlichen Impuls in Ihrer Mannschaft ausgelöst hat?

Das ist Spekulation, aber mich haben während des Entscheidungsprozesses schon einige Spieler angerufen, und mir haben auch nach der Entscheidung einige geschrieben. Ich glaube schon, dass sich die Jungs gefreut haben. Aber ich glaube nicht, dass sie dadurch noch besser performen.

Was bedeutet es für Sie, als Nationaltrainer von Österreich eine EM in Deutschland zu bestreiten?

Es war einer der Hauptgründe, es vor zwei Jahren zu machen. Es ist etwas ganz Besonderes, da dabei sein zu können, nicht nur für mich. In meinem Trainerstab sind außer Michael Gspurning, der allerdings seit Jahren in Berlin lebt, alle Deutsche. Über die Hälfte meiner Spieler lebt und arbeitet in Deutschland.

Für Sie ist bei aller Erfahrung Neuland, eine Mannschaft für eine EM zu präparieren und durch solch ein Turnier zu führen. Wie haben Sie sich vorbereitet?

Wir haben uns im Trainerstab immer wieder darüber ausgetauscht. Im Mai sind wir zu einem dreitägigen Workshop zusammengekommen, bei dem wir von morgens bis abends über Kaderplanung, Trainingsinhalte und das Worauf-kommt’s-an gesprochen haben. Da haben wir auch thematisiert, was wir als Trainer beachten müssen. Wir haben Eishockey-Legende Ralph Krueger eingeladen, der 13 Weltmeisterschaften und vier Olympische Spiele erlebt hat, um sich mit dem engsten Trainerstab auszutauschen: Wie muss der Fokus sein? Wo lauern Fallen, in die man tappen könnte? Er hat erzählt, was er bei seiner ersten Olympia-Teilnahme 2002 in Salt Lake City alles falsch gemacht hat, welche Lehren er daraus vier Jahre später zog. Das war hochinteressant. Er kommt diese Woche noch mal in unser Quartier nach Berlin, da werden wir das Ganze unter Einbeziehung der Spieler in einem ähnlichen Format noch mal machen.

Podcast

Jetzt die fünfte Folge hören: Er macht ihn!

38:13 Minuten

alle Folgen

Wie schwer wiegen die Ausfälle von David Alaba, Xaver Schlager und Sasa Kalajdzic?

Die tun richtig weh, gar keine Frage. Aber wenn sonst alle gesund bleiben, sind wir in der Lage, eine richtig starke Mannschaft aufs Feld zu bringen.

Sie haben Alaba trotzdem eingeladen. In welcher Funktion versprechen Sie sich Unterstützung?

David ist als eine Art “non playing captain” dabei, in erster Linie als Bindeglied zwischen Mannschaft und Trainer. David und ich haben schon vor Wochen gesprochen, und uns war klar, dass er sehr wahrscheinlich nicht rechtzeitig zur EM fit werden würde. Er hat von sich aus gesagt, er wäre gerne dabei, und ich habe das Angebot gerne angenommen. Wir wären ja blöd, wenn wir auf seine Erfahrung und seinen positiven Einfluss auf die Spieler verzichten würden. Wir haben aber auch klar besprochen, dass seine Reha darunter nicht leiden darf. Wir stellen ihm einen persönlichen Trainer und einen persönlichen Physio, damit er rund um die Uhr seine Reha machen kann.

David Alaba

Trotz seiner Verletzung als verlängerter Arm des Trainers im Quartier des ÖFB: David Alaba.
IMAGO/GEPA pictures

Leipzig-Profi Christoph Baumgartner sagte kürzlich, Sie seien ein Garant dafür, dass sich keine Selbstzufriedenheit einschleicht. Müssen Sie Ihre Mannschaft immer wieder antreiben?

Nein. Ich mache mir keine Sorgen, das bei uns irgendjemand glaubt, wir wären schon irgendjemand. Da sind die Jungs realistisch genug, das zeigt ja auch unsere Spielweise, die eine Selbstzufriedenheit gar nicht zulässt. Wir sind immer auf dem Sprung, nach vorn orientiert und nie zufrieden.

Zum Auftakt treffen Sie gleich auf Frankreich. Wie schätzen Sie den Vize-Weltmeister ein?

Wir haben in der Nations League zweimal gegen Frankreich gespielt. Zu Hause hätten wir gewinnen müssen, da wurde Kylian Mbappé aber auch erst spät eingewechselt und hat noch den 1:1-Ausgleich gemacht. In Frankreich hatten wir beim 0:2 keine Chance, da haben bei uns aber auch viele gefehlt, und wir hatten ein paar Dinge ausprobiert. Diesmal werden wir sicher nicht experimentieren. Aber wenn man sich die Qualität in der Breite in der Spitze anschaut, gibt es kein anderes Land, das mit Frankreich mithalten kann. Michael Olise von Crystal Palace hat in den vergangenen Monaten die Premier League verzückt und ist nicht mal für den erweiterten Kader nominiert. Ohne meinen Spielern nahetreten zu wollen: Der wäre bei uns gesetzt. Von den Einzelspielern ist Frankreich eine der besten, wenn nicht die beste Mannschaft. Aber es ist halt trotzdem Mannschaftssport – und da haben wir schon die Chance, das entsprechend zu kompensieren.

Wie wollen Sie das angehen?

Wenn man sie spielen lässt, wird es schwierig. Wenn man sie aber nicht spielen lässt, dann tun sie sich nicht so leicht. Das hat man ja zuletzt auch in den beiden Spielen gegen Deutschland gesehen. Das Spiel muss nach unseren Spielregeln laufen, nach unserer Art, wie wir das Spiel haben wollen.

Wann wäre die EM für Sie ein Erfolg?

Wenn wir am Ende sagen können, dass wir alles auf den Platz gebracht und unsere Spielweise extrem mutig umgesetzt haben, dann wäre das der Fall. Wie vorhin schon erwähnt: Wenn wir es schaffen, in dieser Gruppe weiterzukommen, halte ich es für möglich, dass wir auch danach noch weiterkommen. Wie weit, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Ich war 2022 zehn Tage bei der WM in Katar, da haben mich Marokko und Argentinien fasziniert. Der Unterschied zwischen Argentinien und zum Beispiel Brasilien war, dass du das Gefühl hattest, die Argentinier spielen für ihr ganzes Land, und das ganze Land stand hinter der Mannschaft. Und bei Marokko war das ganz extrem der Fall. So ähnlich müssen auch wir bei dieser EM auftreten. Wir müssen uns auf einer Mission befinden, und mein Anspruch ist, dass wir bei allem, was ein Team auszeichnet, ganz vorn dabei sind. Und wir müssen die Mannschaft sein, die als Team am besten verteidigt.

Beim 2:0 gegen Deutschland ist dies brillant gelungen. War dieses Spiel die Initialzündung, dass man in Österreich tatsächlich daran glaubt, bei der EM Außergewöhnliches erreichen zu können?

Die Menschen identifizieren sich wieder mit ihrer Nationalmannschaft, das bekommt man überall zu spüren. Als ich am Tag nach dem Sieg gegen Deutschland mit meinem Sohn einkaufen war, kam ein älteres Ehepaar auf mich zu und sagte: “Wissen Sie, Herr Rangnick, wir schauen normalerweise gar keinen Fußball, aber das gestern haben wir angeschaut und sind seitdem richtige Fans der österreichischen Nationalmannschaft.” Es ist schön, was das Team in den vorigen Monaten ausgelöst hat.

Sie haben als Teamquartier Berlin und jenes Hotel gewählt, in dem das deutsche Team während des Sommermärchens 2006 logierte. Weil Sie sich einen ähnlichen Verlauf erhoffen und bis zum Finale nicht umziehen wollen?

(lacht) Letzteres würde ich höchstens mit einem Augenzwinkern sagen. Als nach der Auslosung klar war, dass wir zwei Gruppenspiele in Berlin haben, lag es nahe, da auch das Base Camp auszuwählen. Meine Berliner Freunde meinten, dass es ein gutes Quartier wäre, weil es etwas kleiner ist, ein bisschen außerhalb am Grunewald liegt – und weil man nur 15 Minuten mit dem Bus bis ins Stadion benötigt.

Was trauen Sie der deutschen Mannschaft zu?

Wenn sie so spielen wie in den Partien im März, kann man ihnen viel zutrauen. Die Gruppe ist nicht so leicht, wie sie in Deutschland dargestellt wird. Ungarn, Schweiz und Schottland (das Interview wurde vor dem Eröffnungsspiel geführt, Anm. d. Red.) klingen zwar auf den ersten Blick einfach; nicht aber, wenn man sie sich ein bisschen genauer anschaut. Trotzdem: Wenn Julian die Mannschaft wie gegen Frankreich und Holland spielen lässt, kommt Deutschland mit dem Heimvorteil weiter. Und dann gilt das Gleiche wie für uns, wenn wir weiterkommen: Gegen wen spielst du? Welche Ausfälle hast du? Dass man Deutschland in der aktuellen Konstellation zu den Favoriten zählen muss, sehe ich auch so.

Dieses Interview erschien erstmals in der Montagsausgabe des kicker am 10. Juni.

Interview: Oliver Hartmann