Seine Kunst wird fehlen

Seine Kunst wird fehlen

Toni Kroos hat in seinem letzten Match als Vereinsspieler und Profi von Real Madrid den Henkelpott gewonnen. Er tritt auf dem Höhepunkt seiner Karriere ab. Groß ist aber nicht nur der Zeitpunkt, sondern auch die Art und Weise. Eine Würdigung von kicker-Reporter Jörg Wolfrum.

Auf Schultern getragen: Toni Kroos erlebte am Samstag einen traumhaften Abschied.

Auf Schultern getragen: Toni Kroos erlebte am Samstag einen traumhaften Abschied.

IMAGO/PA Images

Schon vor Jahren konnte er es selbst fast nicht glauben. Nach dem ersten Titel in der Königsklasse mit Real Madrid folgte der zweite, dann gar der dritte. Toni Kroos zählte selbst mit und vor, staunend einerseits. Er schob dann aber gleich nach, wieviel harte Arbeit dahintersteht, trotz aller Klasse.

Was er nicht sagte: nicht zuletzt seiner Klasse. Steckpässe und Diagonalpässe und Chips und, und, und … 2022 kam dann noch der vierte Titel. Der vierte mit Real. Der erste, 2013 mit Bayern München, war zu all dem nur das Fundament, von Bayern war er 2014 gekommen. Um zu bleiben. Weltmeister war er schon damals.

Nun verlässt er als Weltstar Real Madrid. Mit dem sechsten Titel in der Champions League: Um 21.45 Uhr Ortszeit Wembley ging er vom Platz, um 21.57 Uhr war Schluss, um 22 Uhr stand er in der Kurve bei den Fans, um 22.17 Uhr hatte er den Henkelpott.

Gekrönt im größten Klub der Welt

Anerkannt über Vereins- und Ländergrenzen hinweg als einer der besten Mittelfeldspieler, die es gab. “Er ist einer der größten Fußballer aller Zeiten”, sagt sein Trainer Carlo Ancelotti. Was die Anzahl der Titel anbelangt, ist er das ohnehin. Nicht auszudenken, die neuerdings wieder von Kroos gelenkte Nationalelf würde auch noch den EM-Titel holen.

Doch längst ist Kroos‘ Karriere so groß wie nur denkbar. Gekrönt im größten Klub der Welt, man darf das betonen. Kroos selbst hat einst gestaunt, wieviel größer und anfangs auch ehrfurchtseinflößender es bei den Madrilenen ist im Vergleich zum FC Bayern. Dennoch hat er es geschafft, in diesem Weltklub den Takt vorzugeben – im Verbund mit anderen, klar, aber immer wieder auch er ganz entscheidend.

Sein Vermächtnis ist auch die Art seines Abgangs

465 Pflichtspiele machte er für die Königlichen in einer Dekade. Viele Deutsche haben bei Real Spuren hinterlassen, beginnend mit Günter Netzer sowie Paul Breitner in den 70ern und dem Kollegen Antonio Rüdiger aktuell. Wie riesig Kroos’ Vorsprung auf seine Landsleute ist, zeigt auch, dass Uli Stielike mit 308 Pflichtspielen der Deutsche mit den zweimeisten Auftritten für die Madrilenen ist. Von den Titeln ganz zu schweigen. 23 sind es für Kroos mit dem Sieg nun in Wembley.

Sein Vermächtnis geht aber über die Anzahl der Titel hinaus. Sein Vermächtnis ist auch die Art seines Abgangs: Auf dem Höhepunkt seiner Kunst (nach der anstehenden EM) – statt zu tingeln wie so viele andere. Kroos gibt daher auch beim Kehraus den Rhythmus vor, so wie er ein Jahrzehnt lang für Real spielte: still und leise meist – und daher mitunter verkannt.

Boshafte unkten “Querpass-Toni” oder “Dieseltraktor”. Dabei war es doch meist effektiv statt schillernd, was Kroos tat. Auch in Wembley: Nach diversen fehlerhaften Aktionen vor der Pause fand er nach dem Wechsel zu gewohnter Präzision – inklusive Assist per Ecke zum vorentscheidenden 1:0 durch Carvajal.

In den letzten Jahren sah man ihn immer öfter als Kämpfer im Mittelfeld

Jahr für Jahr fand er Lösungen, nicht selten entscheidende. Einmal, in einem Clasico, kam sein Chip mit Ansage und Winken auf Kollege Vinicius Junior – und konnte von Barca doch nicht unterbunden werden. Die Folge: Tor für Real.

Die Brillanz des Regisseurs ließ oft auch Kollegen wie den selbst außergewöhnlichen Luka Modric erblassen, der ihm zum Karriereende nachschickt: “Es wird nie wieder einen wie Toni Kroos geben.”

Keiner spielte seit 2014 öfter für die Königlichen, keiner eröffnete Real mehr Chancen, keiner gab mehr Assists. Und in den letzten Jahren im Bernabeu sah man ihn auch immer öfter als Kämpfer im Mittelfeld. Es ist eine königliche Bilanz.

“Wo ist dieser Kroos?”, fragte Menotti

Der unlängst verstorbene große Cesar Luis Menotti war schon von dem Junior Kroos angetan gewesen, auf den er bei der U-17-WM 2007 in Südkorea aufmerksam geworden war. Fünf Tore hatte der Youngster damals auf dem Weg zu Platz 3 erzielt, Menotti aber war beeindruckt von dessen Übersicht. “Wo ist dieser Kroos?”, fragte der Argentinier daher zwei Jahre später in München auf der Tribüne und war enttäuscht, als er erfuhr, dass der Gestalter just an Leverkusen ausgeliehen worden war.

Real-Trainer Ancelotti hat seinen nun Ex-Regisseur dieser Tage oft und in unterschiedlicher Prägung gelobt, unter anderem mit dem “Eier-Spruch“. Aber erhellender war eine andere Aussage: “Toni spielt keine schlechten Pässe, er trifft immer die bestmögliche Entscheidung, er verspürt keinen Druck, er steht immer sehr gut. Das Beste an Kroos ist die Positionierung, die Kontrolle, die er ausübt, er steht immer an der richtigen Stelle, wenn er den Ball empfängt. Toni Kroos ist unersetzlich, selbst dann, wenn er nicht spielt.”

Und jetzt spielt er tatsächlich nie mehr für Real Madrid. Fehlen wird dieser große Regisseur aber fortan nicht nur den Königlichen, sondern nach der EM auch der Fußballwelt.