Der mutige Introvertierte: Reus und die letzte Zugabe

Der mutige Introvertierte: Reus und die letzte Zugabe

Marco Reus (34) sucht das Rampenlicht nicht. Es findet ihn. Auch in Wembley auf der größtmöglichen Bühne des Klub-Fußballs?

Auch noch im fortgeschrittenen Rockstar-Alter von 80 Jahren steht Keith Richards mit den Rolling Stones auf den Bühnen dieser Welt. Man könnte meinen, der Gitarrist bekomme gar nicht genug vom Rampenlicht. Doch ganz so einfach ist es nicht: Obwohl er mit seiner Kunst Abermillionen Fans gewonnen hat und bei Konzerten vor mehreren Zehntausend Menschen spielt, beschreiben ihn Wegbegleiter und Freunde als privat eher stillen und introvertierten Menschen, der nicht gern im Rampenlicht steht. Gemeinsam mit seinen Bandkollegen fühlt er sich zwar auch auf der Bühne sicher. Aber ein geborener Frontmann wie Stones-Sänger Mick Jagger, der vom Applaus der Massen lebt, ist er wahrlich nicht.

Richards ist damit nicht allein. Das Phänomen des “mutigen Introvertierten” ist unter Künstlern, bei Musikern und Schauspielern, durchaus weit verbreitet. Und auch im Fußball gibt es sie, diese Charaktere, die alle Blicke auf sich ziehen, weil sie außergewöhnlich sind in dem, was sie tun – obwohl sie am liebsten unsichtbar wären. Einer von ihnen nimmt am Samstag Abschied von der großen Bühne – und das auf der größtmöglichen, die es im Klub-Fußball gibt: Marco Reus absolviert im Champions-League-Finale gegen Real Madrid im Wembley-Stadion zu London sein letztes Spiel als Profi von Borussia Dortmund. Der Offensivspieler, der am Tag vor dem Endspiel 35 Jahre alt wird, gibt eine letzte Zugabe.

Zwölf Jahre als Profi des BVB gehen dann zu Ende. Zwölf Jahre, in denen Reus Höhen und Tiefen erlebte, persönliche und mannschaftliche Erfolge feierte, aber auch Tiefschläge einstecken musste. Weil sein Körper streikte. Oder weil die Art, wie er spielte oder wie er trotz seiner Aversion gegen das Rampenlicht das Kapitänsamt ausfüllte, nicht überall positiven Anklang fand. Reus sei kein Leader, kein Anführer, kein Führungsspieler, lauteten die – nicht gänzlich unberechtigten – Vorwürfe seiner Kritiker. Weil er sich wegducke, keinen Klartext in der Öffentlichkeit spreche oder dort überhaupt nicht in Erscheinung trete.

Marco ist niemand, der auf dich zukommt und dir den Fußball erklären will. Er beeinflusst dich dadurch, wie er Fußball spielt.

Julian Brandt

Von seinen Mitspielern indes hörte man ganz andere Töne. “Marco ist niemand, der auf dich zukommt und dir den Fußball erklären will. Er beeinflusst dich dadurch, wie er Fußball spielt”, sagt Julian Brandt, der in den vergangenen Jahren beim BVB Reus als Mitspieler eng begleitete: “Marco ist kein Lautsprecher, aber wenn er in der Kabine etwas sagt, dann hören die Jungs zu. Weil jeder weiß, was er geleistet hat und wer er ist.” Es sind Worte der ehrlichen Bewunderung, die in einem Brandt-typischen Satz voller Witz münden: “Ich bin ohnehin kein Fan davon, in irgendwelche Fußstapfen zu treten. Jeder hinterlässt seine eigenen Abdrücke – und Marcos sind sehr groß. So große Füße hat momentan noch kein anderer von uns.”

Dabei fehlen Reus die ganz großen Titel. 2013, in seinem ersten Jahr als Profi beim BVB, unterlag er mit den Schwarz-Gelben im Champions-League-Finale – ebenfalls im Londoner Wembley-Stadion – dem FC Bayern trotz einer starken Leistung mit 1:2. 2014, als Deutschland Weltmeister wurde, saß er daheim auf dem Sofa, weil er sich im letzten Test vor der Abreise nach Brasilien schwer am Sprunggelenk verletzte. 2023 schließlich verpasste er mit dem BVB am letzten Spieltag die Meisterschaft, weil Schwarz-Gelb im Kollektiv die Nerven versagten. Es wäre sein erster Meistertitel gewesen.

So stehen bislang nur – in Anführungszeichen – zwei DFB-Pokal-Siege (2017, 2021) und drei Supercup-Erfolge (2013, 2014, 2019) in seiner Vita, dazu war er zweimal Deutschlands Fußballer des Jahres (2012 und 2019) sowie dreimal Bundesliga-Spieler der Saison (2012, 2014, 2019). Und am 1. Juni vielleicht Champions-League-Sieger? Im letzten Spiel für den Verein, für den er bereits in der Jugend kickte, ehe er aufgrund seiner zu schmalen Schultern fortgeschickt wurde nach Ahlen, wo er zum Profi heranwuchs? Es wäre das perfekte Ende einer Karriere, der man unrecht tun würde, wenn man sie nur an den Pokalen misst, die bei Reus daheim auf dem Kaminsims stehen.

“Marco hat instinktiv das Gespür und das richtige Timing, um im passenden Moment die richtigen Bewegungen zu machen – und das noch dazu äußerst sauber”, sagt Oliver Kirch, der 2012 zur gleichen Zeit zum BVB stieß wie Reus. Was das Spezielle an ihm sei? “Seine Eleganz. Marco ist nie hektisch, ist immer aufrecht und spielt stets mit Übersicht”, antwortet der frühere Mittelfeldspieler, der in der eben abgelaufenen Saison die U 19 von Reus’ früherem Klub Borussia Mönchengladbach in die Endrunde um die Deutsche Meisterschaft coachte: “Dadurch ist er unfassbar gut im Eins-gegen-eins, obwohl er – anders als beispielsweise Jadon Sancho – kaum Tricks wie Übersteiger oder die Zidane-Rolle einstreut.”

Keiner erzielte so häufig das 1:0 für den BVB wie Reus

Auch sein aktueller Mitspieler Brandt schwärmt von den fußballerischen Qualitäten von Dortmunds Nummer 11: “Sein Schuss ist außergewöhnlich. Man muss sich nur die Statistik anschauen: Wie viele Tore er geschossen und wie viele Vorlagen er gegeben hat. Oder wie oft er ein Spiel aufgebrochen hat durch ein 1:0.” In seiner Zeit beim BVB war Reus bislang durchschnittlich alle 104 Minuten an einem Tor beteiligt, in der Champions League immerhin noch alle 123 Minuten. 47-mal erzielte er für den BVB allein in der Bundesliga das 1:0 – nicht einmal Manfred Burgsmüller, eine andere Ikone des Klubs, kann da mit 45 Eisbrechern mithalten.

Es sind Werte, die seine Klasse unterstreichen – und die erklären, warum sein Trikot auch in seiner Abschiedssaison das meistverkaufte bei Borussia Dortmund ist. Reus ist eine Marke. National, aber auch international. Nicht wegen seiner 48 Länderspiele, sondern weil er jahrelang das Gesicht des BVB verkörperte. In den USA. Vor allem auch in Asien. Spätestens, als er im Jahr 2016 für das weltweite Cover des populären Videospiels “Fifa 17” ausgewählt wurde. Im schwarz-gelben Trikot der Borussia.

CHAMPIONS-LEAGUE-FINALE 2023/24

Reus selbst war und ist der Rummel, den er auslöst, dagegen stets zu viel. Das eint den Fußball-Virtuosen Marco Reus mit dem Gitarren-Virtuosen Keith Richards. So war es auch am vorvergangenen Samstag, als er ein letztes Mal als BVB-Profi in das Dortmunder Stadion einlief. Ganz allein – weil seine Mitspieler sich den Spaß erlaubt hatten, vor dem Warmmachen einfach im Kabinentunnel stehen zu bleiben.

“Wir wissen, dass es ihm irgendwann unangenehm wird, wenn er da alleine auf dem Rasen rumgurkt. Weil das nicht seine Natur ist”, erklärte Brandt später die Aktion, die Reus – der selbst regelmäßig seine Späße mit den Mitspielern treibt – an diesem besonderen Tag mit Humor nahm: “Es war so nicht geplant – jedenfalls nicht von meiner Seite”, kommentierte er seinen unfreiwilligen Alleingang. “Aber es war schön. Das zeigt auch, welches Feingefühl die Jungs haben. Ich habe es echt genossen.”

Wie auch das Bad in der Menge, das er erstmals in Paris nach dem Halbfinal-Triumph bei PSG nahm und nach dem 4:0 im letzten Bundesligaspiel gegen Darmstadt erneut auskostete. “Dankbar” sei er dafür, dazu eingeladen worden zu sein, sagte Reus später in einem seiner seltenen Gesprächsrunden vor Reportern, und kündigte dann an, in Zukunft möglicherweise wiederzukommen, wenn nicht mehr er, sondern andere im Rampenlicht stehen. “Dann werde ich den Jungs da oben einen Besuch abstatten. Da ist es noch einmal ein ganz anderes Gefühl.”

Reus’ finale Wochen in Dortmund, bevor er seine Karriere an einem anderen Ort fortsetzen will, waren fast zu kitschig, um wahr zu sein. Erst die würdevolle Ankündigung seines Abschieds, ohne jeden öffentlichen Groll, obwohl er sportlich nicht mehr jene zentrale Rolle spielt, in der er sich selbst sieht. Dann der Sieg in Paris, der Gang zu den Ultras, das Abschiedstor gegen Darmstadt … “Es wäre ein Bilderbuchabschied gewesen”, sagt Dortmunds Sportdirektor Sebastian Kehl. Wäre es. Wenn da nicht noch etwas kommen würde. Nämlich “dieses Finale, in dem wir es krönen wollen”.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird Reus dann zunächst auf der Bank Platz nehmen. Wie in dieser Saison so häufig. Er ist nicht mehr so schnell wie früher. Nicht mehr ganz so explosiv und torgefährlich – auch wenn 15 Scorerpunkte (sechs Tore, neun Assists) in nur 1603 Spielminuten, verteilt auf 26 Einsätze in der Bundesliga wahrlich kein schlechter Wert sind. Dortmunds Spiel prägen inzwischen andere.

Brandt etwa, der neben Jadon Sancho oder früher Mario Götze und Pierre-Emerick Aubameyang einer jener Mitspieler ist, mit denen Reus sich auf dem Platz stets nahezu blind verstand. Oder seit dieser Rückrunde Marcel Sabitzer, der inzwischen Reus’ früheren Platz an der Seite von Brandt einnimmt. Nicht zufällig kam Reus in den letzten fünf Champions-League-Einsätzen nur von der Bank zum Zug – und damit genauso häufig wie in seinen ersten 66 Partien in der Königsklasse. Dass sein auslaufender Vertrag in Dortmund daher nicht verlängert wird, ist aus Sicht des Klubs nachvollziehbar. Dass Reus seine Karriere noch nicht beenden will, ebenso.

“Man hat zuletzt gegen Darmstadt gemerkt, zu was er in seinem Alter noch immer in der Lage ist. Marco ist ein besonderer Spieler. Das verlernt man auch nicht”, sagt Brandt, ehe er einen vielsagenden Satz hinterherschiebt: “Es ging fast zu schnell.”

Bei Laufbahn-Ende werden wohl die “Hätte, Wäre, Wenn”-Formulierungen kommen

Vor allem, weil Reus die Zeit geklaut wurde. Durch die vielen, teils schweren Verletzungen, die ihn Titel und Rekorde kosteten. Wenn Reus die Fußballschuhe in ein, zwei oder drei Jahren endgültig beiseitestellt und seine Laufbahn beendet, werden ihn “Hätte, Wäre, Wenn”-Formulierungen daher wohl weiter begleiten: Hätte er sich nicht so oft verletzt. Wäre er öfter richtig fit gewesen. Wenn doch nur der Körper mit gespielt hätte …

Doch, Stopp! Es gibt sie ja noch, die eine letzte Zugabe. Und damit die Chance, einer großen Karriere bei der Borussia den angemessenen Abschluss zu bescheren. Auch wenn das bedeuten würde, dass Reus, dieser stille Künstler, wohl noch einmal ins Rampenlicht müsste. Es wäre ein Opfer, das er gerne bringen würde. Ganz so, wie es Keith Richards macht, wenn er die Gitarre umschnallt, um noch einmal die alten Hits zu spielen.

Dieser Text erschien zuerst in der kicker-Ausgabe Nr. 44 am 27. Mai 2024.

Matthias Dersch, Patrick Kleinmann