Brehmes Tränen, Kukas Geständnis und ein umstrittener Einwurf: Als der FCK in Leverkusen abstieg

Brehmes Tränen, Kukas Geständnis und ein umstrittener Einwurf: Als der FCK in Leverkusen abstieg

Im Mai 1996 steigt der 1. FC Kaiserslautern aus der Bundesliga ab – und mit ihm eine ganze Region. Das “Endspiel” in Leverkusen stürzt die Roten Teufel ins Tal der Tränen. Doch nur wenige Tage später holen sie den Pokal – und setzen damit zu einem Fußballmärchen an.

Der 18. Mai 1996, 34. Spieltag der Saison 1995/96, endet mit einem ikonischen Bild, das zwei Weltmeister und Freunde zeigt, Arm in Arm beim TV-Interview. Der eine, Rudi Völler, schaut angesichts der Rettung bei seinem Karriereende tapfer nach vorne. Der andere, Andreas Brehme, lehnt sich schluchzend an und weint die Tränen einer ganzen Region. Nicht nur der FCK ist an diesem Tag zum ersten Mal überhaupt abgestiegen, die gesamte Pfalz liegt am Boden.

Dabei beginnt alles mit Zuversicht. Zuversicht auf beiden Seiten, obwohl oder gerade weil der Spielplan Bayer 04 Leverkusen und dem 1. FC Kaiserslautern ein großes Finale beschert. Die beiden Freunde Völler und Brehme blenden das, was da kommt, aus. “Hier geht es nicht um Völler oder mich, hier geht es um das Schicksal von zwei Vereinen”, sagt Brehme dem kicker. “Wenn ich diese Woche mit Rudi telefoniere, sprechen wir bestimmt nicht über das Spiel.”

Brehme, Völler oder Illgner – einen der Weltmeister von 1990 wird es erwischen

Trotzdem ist klar: Einer der beiden Weltmeister muss am Ende wohl absteigen – mehr noch: Weil der 1. FC Köln mit Bodo Illgner auch noch im Abstiegskampf steckt, wird einer der Helden von Rom 1990 ganz sicher in der 2. Liga landen. “Es tut mir leid, für einen der beiden”, sagt Völler vor dem Spieltag und schließt damit den eigenen Absturz aus.

Die bessere Ausgangslage hat die Werkself, die nicht nur Heimrecht hat, sondern der auch ein Punkt für den Nicht-Abstieg reicht. Der FCK aber reist mit Selbstvertrauen an, sechsmal in Folge sind die Roten Teufel vor dem Showdown ungeschlagen geblieben – und sie haben Leverkusen im Pokal-Halbfinale wenige Monate zuvor 1:0 besiegt. Allen ist klar: Der FCK möchte nicht als Absteiger zum Pokal-Endspiel nach Berlin gegen den KSC reisen.

Saison 1995/96 – 34. Spieltag

Dass Brehme, Pavel Kuka, Olaf Marschall, Martin Wagner und Co. überhaupt der Abstieg droht, liegt an satten 16 Unentschieden, denen gerade mal sechs Siege gegenüberstehen. Zum Verhängnis wird dem FCK die just in dieser Saison eingeführte Drei-Punkte-Regel, die Siege noch mehr belohnt und Remis entsprechend abwertet.

Ansturm auf die Gäste-Karten

Nun aber bietet sich die Chance, mit einem Sieg alles gerade zu rücken und den Super-GAU abzuwenden. Aufbruch ist das Stichwort. “Wir werden aggressiv, mit Mut und Selbstvertrauen spielen”, kündigt Cheftrainer Eckhard Krautzun an, der im Frühjahr von Friedel Rausch übernommen hatte. Von einer “Pfälzer-Wanderung”, die fünf Jahre zuvor nach Köln beim Gewinn der deutschen Meisterschaft stattgefunden hat, ist die Rede. Doch während damals Zehntausende in Rot und Weiß das Müngersdorfer Stadion einnahmen und später den Platz stürmten, dürfen in das kleine noch nicht ausgebaute Ulrich-Haberland-Stadion nur wenige Gästefans mit. “Schade, wir könnten leicht über 10.000 Karten verkaufen”, sagt Lauterns damaliger kaufmännischer Leiter Wilfried de Buhr. Am Ende sind es rund 5000.

Zu sehen bekommen sie und die übrigen 14.500 Zuschauer eine Partie, die das Prädikat “Abstiegskampf” voll verdient. “Von der ersten bis zur letzten Minute entwickelte sich ein nervenaufreibendes Spiel im Haberland-Stadion. Naturgemäß fehlten die spielerische Klasse, Kampf und Einsatz waren Trumpf”, urteilte der kicker.

Beide Mannschaften sind ersatzgeschwächt. Leverkusens Coach Peter Hermann, der von Manager Reiner Calmund Ende April nach der Trennung von Erich Ribbeck als Interimstrainer eingesetzt worden ist, stehen mit Christian Wörns und Ulf Kirsten zwei wichtige Säulen nicht zur Verfügung. Dem FCK fehlt Antreiber und Nationalspieler Martin Wagner wegen einer Gelb-Sperre.

Ich bin praktisch am Radio abgestiegen.

Martin Wagner

Wagner, der wenige Tage später das entscheidende Tor im Pokalfinale schießen wird, will eigentlich im Stadion dabei sein, verpasst jedoch das Spiel. “Ich bin mit meiner Frau privat nach Leverkusen gefahren. Wir mussten noch tanken, ich habe ihr aber gesagt, dass es reicht bis Leverkusen. Hat es aber nicht. Wir sind dann an der Ausfahrt stehen geblieben, das war schon kurz vor Spielbeginn”, erinnerte er sich Jahre später beim SWR. ” Bis ich dann im Stadion war, war das Spiel vorbei. Ich habe das Spiel nicht live gesehen, sondern habe mir das im Radio angehört. Und ich bin praktisch am Radio abgestiegen.“

Wagner hört am Radio, wie der FCK nach zähem Beginn so langsam die Spielkontrolle übernimmt, es dauert aber quälend lange 58 Minuten, bis Pavel Kuka das vermeintlich erlösende Tor gelingt. Dort nach Kaiserslauterns Führung kommt Leverkusen plötzlich auf – und acht Minuten vor Ende der regulären Spielzeit ist es Markus Münch, der den FCK in tiefe Trauer stürzt und Leverkusens Rettung trotz zahlreicher weiterer Chancen für die Gäste besiegelt.

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Die Unbesiegbaren sind demontiert: Was bedeutet das für Leverkusen und das Pokalfinale?

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Kurz kommt Wut bei den Pfälzern auf, geht dem entscheidenden Ausgleich durch ein von Miroslav Kadlec ins Aus gespielter Ball voraus, um die Behandlung von Olaf Marschall, der sich in einem Zweikampf mit Münch verletzt hat, zu ermöglichen. Doch statt Einwurf zum FCK zurückzuwerfen, leitet Paulo Sergio den entscheidenden Angriff ein. “Das war nicht die feine englische Art”, gesteht Völler später ein, sagt aber auch: “Die Lauterer hätten nicht anders gehandelt.”

Der Publikumsliebling wird in der 86. Minute ausgewechselt und gefeiert. Wenige Minuten später ist klar, dass er sein Amt als Bayer-Sportdirektor in der Bundesliga aufnimmt. Es ist für Leverkusen der Startschuss für eine erfolgreiche Entwicklung: Das Stadion wird ausgebaut, Christoph Daum übernimmt als Trainer und formt einen Meisterschaftsanwärter, der nur sechs Jahre später – dann aber schon ohne Daum – im Champions-League-Finale stehen wird. All das wäre wohl nicht möglich gewesen hätte sich der Bayer an diesem Tag nicht gerettet.

Thomas Hengen

Untröstlich nach dem Abstieg: Thomas Hengen.
imago/Horstmüller

Kuka: “Ich habe große Schuld”

Der FCK stürzt mit dem Abpfiff in ein Tal der Tränen. Präsident Norbert Thines weint hemmungslos an der Schulter von Ministerpräsident Kurt Beck. Thomas Hengen bricht auf dem Rasen zusammen und “hätte sich am liebsten unter der Grasnarbe verkrochen”, heißt es im kicker. Und auch der eigens aus der Türkei angereiste Stefan Kuntz vergräbt das Gesicht hinter den Händen. Nach 33 Jahren, 1118 Spielen, 434 Siege und 1828 Toren, wie der kicker im Anschluss aufzählt, steigt das Gründungsmitglied aus der Bundesliga ab.

Der Schock weicht aber noch vor Ort trotzige Zuversicht. “Ich habe große Schuld”, gesteht Kuka vor dem Mannschaftsbus ein – und erklärt seinen Verbleib. Auch Wagner, Marschall und Kadlec wollen den “Unfall” reparieren. Und Andy Brehme, der von seinem Freund Völler eben noch getröstet wird, beendet später Spekulationen über ein Karriereende: “Ich werde mit Sicherheit weitermachen.”

Brehme ist es, der wenige Tage später in Berlin den DFB-Pokal in die Höhe rammt. “Wir haben den Pokal, Halleluja, und wir steigen wieder auf, Halleluja”, stimmt die Mannschaft noch in der Kabine an. Es ist nicht nur eine Versöhnung nach einer schwierigen Saison. Es ist auch der Startpunkt für ein Fußballmärchen, das zwei Jahre später mit dem sensationellen Gewinn der Meisterschaft als Aufsteiger endet.

Frederik Paulus