“Nach Kohli krähte kein Hahn, einfach vergessen”

“Nach Kohli krähte kein Hahn, einfach vergessen”

Nicht alle Helden von Bern blieben solche. 100 Jahre alt wäre Werner Kohlmeyer am Freitag geworden. Kurator Hagen Leopold erzählt.

Bei der Kranzniederlegung auf dem Kaiserslauterer Hauptfriedhof an diesem Freitag wird Hagen Leopold zugegen sein. Der Kurator hat in seiner Ausstellung zu Ottmar Walter, die im Stadtmuseum wegen des großen Erfolges bis zum 18. Mai verlängert wird, auch Werner Kohlmeyer thematisiert.

Warum haben Sie dem Kaiserslauterer 54er Weltmeister Werner Kohlmeyer nur eine Vitrine gewidmet und nicht wie bei Fritz oder Ottmar Walter eine eigene Ausstellung, Herr Leopold?

Das ist schlichtweg nicht möglich, weil es kein entsprechendes Ausstellungsmaterial gibt. Außer Pressebildern ist fast nichts mehr vorhanden, von seinen WM-Devotionalien ist nur die Medaille übrig, der Rest wurde in alle Winde zerstreut. Die Familie hat praktisch gar nichts mehr von ihm.

Kohlmeyer sei ein geborener Verteidiger gewesen mit einem Schuss wie ein Pferd. Was zeichnete diesen “Mordskerl”, wie ihn WM-Final-Kommentator Herbert Zimmermann nannte, fußballerisch noch aus?

Als Linksverteidiger hatte er neben einem schnellen Antritt die Gabe, wie ein Torwart zu denken. Sein Stellungsspiel war herausragend, und weil er sehr gut antizipiert hat, kam es bei der WM zu diesen Rettungstaten. Keine Ahnung, wie oft er für den FCK in ähnlicher Weise für den geschlagenen Torwart geblockt hat.

Bundestrainer Sepp Herberger soll ihn geschätzt haben, weil er “nicht für die Kulisse spielte, sondern sich in den Dienst der Mannschaft stellte”.

Kohli war keiner, der für die Galerie spielte, er war sich nicht zu schade, den Ball unters Tribünendach zu dreschen. Aber obwohl er auf den ersten Metern präsent war und dem Gegner kaum Raum ließ, war er kein unfairer Verteidiger, ganz anders als sein Klubkollege Werner Liebrich.

In den Archiven wird er als Pfälzer Fünfkampfmeister geführt, der die 100 Meter um die elf Sekunden lief.

Von der Statur her war er ein kräftiger, bulliger Typ. Und obwohl Kohlmeyer zu viel Leibesfülle hatte für einen Sportler dieser Art, war er ein Multitalent über den Fußball hinaus. Während er in der FCK-Jugend spielte, glänzte er auch als Leichtathlet.

Kohli war für jeden Spaß zu haben. Karten spielen, Musik machen, singen: Er war immer ganz vorne dabei, wenn es um die Kameradschaft ging.

Hagen Leopold

Ein Job als Buchhalter, eine Lehrerin als Ehefrau und drei Kinder: Wie war Kohlmeyer abseits des Platzes?

Hilfsbereit, zuverlässig und gutmütig, so wird er charakterisiert. Und er war immer der gesellige Typ, einer, der gerne Musik gemacht hat. Es gibt Bilder, da spielt er Violine während der WM. Ich dachte erst, das wären gestellte Fotos mit ihm an der Violine und Helmut Rahn mit dem Schifferklavier. Aber dann erfuhr ich, dass er als Jugendlicher in einem Gau-Orchester gespielt hat.

Von seinem Mitspieler Werner Liebrich ist dieses Zitat überliefert: “Kohli war immer zu Streichen aufgelegt, dann aber auch sehr eigenbrötlerisch. Wenn wir alle ein blaues Sakko trugen, kam er mit Sicherheit im grünen. Im Spiel aber war auf ihn absolut Verlass, er war ein exzellenter Kamerad.”

Das kann man genau so stehen lassen. Kohli war für jeden Spaß zu haben. Karten spielen, Musik machen, singen: Er war immer ganz vorne dabei, wenn es um die Kameradschaft ging. Und vielleicht hat ihm genau das später das Genick gebrochen.

Sie thematisieren in Ihrer aktuellen Ausstellung “100 Jahre unser Ottes” Werner Kohlmeyer als Gegenpol zu Ottmar Walter. Warum?

Die beiden haben von der Jugend an im selben Jahrgang gespielt und dieselben Erfolge erzielt. Ihre Karrieren verliefen komplett im Gleichschritt, inklusive Spielsucht und Alkoholprobleme – mit einem signifikanten Unterschied: Ottmar Walter hat diese Lebenskrise gemeistert, weil er die Chancen, die ihm geboten wurden, ergriffen hat. Auch Kohlmeyer hat es nicht an Hilfestellungen gefehlt. Aber er hat in die ausgestreckten Hände durch seinen unkontrollierten Alkoholkonsum stets selbst hineingebissen. Durch die Spielsucht, die Schulden und den Alkohol ging die Ehe in die Brüche. Gegen einen Deckel Bierschulden im Wirtshaus hat er seine WM-Medaille versetzt. Er ist so tief abgerutscht, dass er wie ein Clochard auf der Straße gelebt hat.

Wie sahen diese Hilfestellungen aus?

Bei Ottmar Walter hat zum Beispiel Herberger nach dessen Selbstmordversuch entscheidend eingegriffen. Herberger hat immer wieder versucht, Kohlmeyer unter die Arme zu greifen, ihm Türen geöffnet und Arbeit vermittelt. Verschiedene Jobangebote nahm er auch wahr, aber das ging nur eine gewisse Zeit gut. Herberger hat ihm sogar einen Kredit besorgt und diesen privat vorfinanziert, im Zuge meiner Recherchen im Herberger-Nachlass habe ich den Schriftverkehr gesehen.

Das soll dem DFB nicht gefallen haben.

Es gibt ein Schreiben von DFB-Präsident Hermann Gößmann, der darin mahnend den Zeigefinger hebt: “Herr Herberger, verheben Sie sich nicht, Sie wissen, dass Sie allein im Risiko sind.” Der Bundestrainer hat dennoch 10.000 Mark überwiesen. Und auch in die Hilfeschreie von Kohlmeyers Frau Carola – in Form von handschriftlichen Briefen – hatte ich Einblick. Die gehen einem durch Mark und Bein, sie hat ihr Innerstes nach außen gekehrt. Die Familie hat enorm unter der Situation gelitten und sich später komplett von ihm abgewendet.

Der 2013 verstorbene Spiegel-Reporter Jürgen Leinemann schrieb in der Herberger-Biografie: “Die Weltmeisterschaft war wie eine Versuchung in ihr Leben eingebrochen und in der Tat hatten es die meisten schwer, damit fertigzuwerden.”

Ich würde schon sagen, dass einige Schwierigkeiten hatten, das im Nachgang zu verarbeiten. Das fing schon mit der Spaltung innerhalb des Teams an: hier die erste Elf, da das zweite Glied. Bei vielen Veranstaltungen, etwa bei Fernsehformaten wie “Der blaue Bock”, wurden immer nur die Stammspieler eingeladen. Oder nehmen wir die WM-Plakette. Es wurden lediglich elf Exemplare überreicht. Und nur weil Herberger sich für die anderen eingesetzt und die restlichen bei derselben Goldschmiede in Auftrag gegeben hat, erhielten alle eine. Wenn ich mir allein die Lebenskrisen bei Ottmar Walter, Helmut Rahn oder Kohlmeyer betrachte, ist das eine bedauerliche Quote. Wie bilanzierte Fritz Walter so treffend: Der Lebenskampf ist schwieriger als der Fußballkampf.

Eine der Kohlmeyer-Töchter sagte einmal: “Unser Vater und auch die anderen Weltmeister waren nicht darauf vorbereitet, wie man mit Ruhm und all der Aufmerksamkeit umzugehen hat.”

Das ist nachvollziehbar, viele waren null dafür präpariert, was auf sie einprasselt. Ottmar Walter hat einmal bei einem Empfang bemängelt, dass “du es weder genießen noch verarbeiten konntest. Plötzlich standest du dem Bundespräsidenten gegenüber.”

FCK

Ein Denkmal vor dem Fritz-Walter-Stadion mit den FCK-Legenden Werner Liebrich, Fritz Walter, Werner Kohlmeyer, Horst Eckel und Ottmar Walter.
IMAGO/alimdi

Von Kohlmeyer selbst stammt dieses Zitat, nachdem er sich wieder gefangen hatte: “Vielleicht war es der größte Fehler, dass ich Fußball gespielt habe.”

Die Familie verloren, auf der Straße gelebt – er war ganz, ganz unten. Und es schien, als habe sich niemand um ihn gekümmert. Bei dieser Tragik liegt ein solches Resümee nahe. Er hat es allein dem Journalisten Werner Höllein von der Allgemeinen Zeitung in Mainz zu verdanken, dass er nach diversen Hilfsarbeiterjobs ab 1972 Boden unter die Füße bekam dank einer Anstellung als Nachtportier.

1974, mit nicht einmal 50 Jahren, starb Kohlmeyer als Erster der Berner Elf.

Und er ist in aller Stille beerdigt worden. 25 Jahre später wurde das Grab eingeebnet, weil die Familie aus verständlichen Gründen kein Geld mehr in die Hand genommen hat, um das Grab zu verlängern. Erst 2017 ist ein Gedenkstein auf dem Hauptfriedhof in Kaiserslautern aufgestellt worden.

Sie nennen Kohlmeyer den vergessenen Weltmeister und haben einen Anteil daran, dass man seinem Namen in Kaiserslautern wieder begegnet. 2007 wurde ein Stadiontor nach ihm benannt, zehn Jahre später folgte der Gedenkstein, in Morlautern eine Straße.

Im Jahr 2003, bei meiner Gedenkveranstaltung zum ersten Todestag von Fritz Walter, habe ich es eine Schande genannt, dass es in Kaiserslautern keinen einzigen Nachweis für die Existenz von Kohlmeyer gibt. Kein Hahn hat damals mehr nach ihm gekräht, er war einfach vergessen.

Dieses Interview erschien erstmals in der kicker-Donnerstagsausgabe am 18. April

Interview: Uwe Röser