Die Bücherei hat geschlossen

Die Bücherei hat geschlossen

Sie geben Ultras eine Bühne und locken mit billigem Bier: Nicht nur mit erfolgreicherem Fußball hat der FC Arsenal Klub und Fans wieder vereint. Doch es gibt bereits neue Risse.

Vergiftet? Vergangenheit! Bei Arsenal ist die Verbindung zwischen Klub und Fans stark wie lange nicht.

Vergiftet? Vergangenheit! Bei Arsenal ist die Verbindung zwischen Klub und Fans stark wie lange nicht.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Es gab Zeiten, und die sind noch nicht allzu lange her, da war es für Auswärtsfans im Emirates Stadium keine Kunst, sich Gehör zu verschaffen. 2019 ging es in einem Europa-League-Heimspiel sogar so gespenstisch zu, dass durch die Arena “Auswärtssieg!”-Rufe von Eintracht-Frankfurt-Anhängern schallten, die offiziell gar nicht da waren: Die UEFA hatte sie ausgesperrt.

Wenn der FC Bayern an diesem Dienstag (21 Uhr, LIVE! bei kicker) zum Viertelfinalhinspiel in der Champions League beim FC Arsenal antritt, muss der Gästeblock ebenfalls leer bleiben. Doch “Auswärtssieg!”-Rufe hätte man womöglich eh nur schwerlich vernommen. Die Bücherei, als die Arsenals alte Spielstätte (“Highbury the library”) ebenso verspottet wurde wie die 2006 bezogene neue, hat geschlossen, vielleicht für immer.

Arteta hat die Stimmung gedreht – sein wichtigster Kniff ist der banalste

“Ich habe im Emirates wohl noch nie eine solche Atmosphäre erlebt wie heute”, staunte Arsenal-Trainer Mikel Arteta vor vier Wochen, als seine Mannschaft im Elfmeterschießen gegen den FC Porto erstmals seit 14 Jahren ins Champions-League-Viertelfinale eingezogen war. “Es war von Anfang bis Ende unglaublich.” Als Spieler hatte er selbst viele Nachmittage in der Bücherei verbracht.

Will man begreifen, wie Arsenal in ein paar Jahren aus einer regelmäßig gespenstischen eine regelmäßig unglaubliche Atmosphäre gemacht hat, landet man immer wieder bei Arteta. Sein wichtigster Kniff ist ebenso banal wie offensichtlich: Er hat den Erfolg zu den Gunners zurückgebracht. Doch das war längst nicht alles.

In den lähmenden letzten Jahren der Arsene-Wenger-Ära sei die Atmosphäre im Emirates “ein wenig vergiftet” gewesen, sagte Alexis Spyrou, ein langjähriger Dauerkartenbesitzer, dem kicker. “Die meisten Fans waren gelangweilt davon, nur schönen Fußball, aber nicht um Meistertitel mitzuspielen.” Doch nach der kurzen, holprigen Amtszeit von Wenger-Nachfolger Unai Emery baute Arteta Schritt für Schritt eine junge, aufregende, teils lokal ausgebildete Mannschaft auf, mit der sich zu identifizieren leichtfiel. Der Anhang, zuvor über Jahre wegen Wenger gespalten, steht inzwischen geschlossen hinter der Arbeit des 42-jährigen Spaniers, die 2020 zum FA-Cup-Sieg und 2023 zur Vizemeisterschaft samt Rückkehr in die Champions League führte.

Seit wenigen Jahren gibt es bei Arsenal eine Premier-League-Rarität: Ultras

Ganz besonders weiß Arteta die “Ashburton Army” hinter sich. Die Fangruppe, die ihre Mitglieder nach strengen Kriterien auswählt, erregt seit dem Ende der Corona-Geisterspiele Aufsehen bis in die New York Times, weil sie der europäischen Ultra-Bewegung nacheifert und deshalb eine Rarität in der Premier League ist. Die vornehmlich jungen Männer veranstalten Choreos und Fanmärsche, trommeln, zünden Pyrotechnik und singen bei jedem Heimspiel ohne Unterlass.

Schwarze Klamotten tragen - und nie aufhören zu singen: Die

Schwarze Klamotten tragen – und nie aufhören zu singen: Die “Ashburton Army” in Aktion.
Arsenal FC via Getty Images

Als sie beim Klub einfach mal fragten, ob sie einen festen Platz im Clock End des Emirates, also direkt hinterm Tor, bekommen können, stimmte dieser zu. Arteta soll sich selbst für sie starkgemacht haben. “Seit wir da sind, ist die Atmosphäre so viel besser geworden”, sagte ein “Ashburton Army”-Mitglied The Athletic, und Arteta würde dem gewiss zustimmen, genau wie viele Dauerkarteninhaber, die seit der Pandemie nicht mehr dieselben sind. Als Arsenal zu Beginn der Saison 2021/22 anbot, Jahresabos aus finanziellen Gründen zu unterbrechen, rückten Jüngere nach und durften auch bleiben, als die pausierenden Fans zurückkehrten. Den Verantwortlichen gefiel die neue Dynamik einfach.

Zusätzlich brachten sie die Fans mit speziellen Bier-Rabatten dazu, bei Heimspielen früher im Emirates einzutreffen, und etablierten eine neue Hymne. Als Anfang 2022 “North London Forever” viral ging, ein Song von Arsenal-Fan Louis Dunford, drängte Arteta persönlich darauf, ihn kurz vor dem Anpfiff ähnlich wie “You’ll Never Walk Alone” in Liverpool im Stadion zu spielen. Inzwischen ist dieser emotionale Moment ritualisiert, alle singen mit. “Das war einzigartig, das habe ich hier noch nie erlebt”, sagte Arteta nach der Uraufführung – wieder einmal.

Die treuesten Fans haben nun weniger Platz – Steigen auch die Preise wieder?

Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die neue Verbindung zwischen Klub und Fans seit dieser Saison neue Risse erhalten hat und weitere folgen könnten. Die “Ashburton Army”, die davon träumte, den ganzen Block hinter dem Tor zu übernehmen, hat plötzlich nur noch den halben Platz zur Verfügung, weil Arsenal ein Ticket-Losverfahren eingeführt hat, um den illegalen Tickethandel zu bekämpfen. Auch die noch strengere Personalisierung der Eintrittskarten schmeckte der Gruppe gar nicht. “Dass die ‘Ashburton Army’ nicht weiter wachsen kann, ist wirklich schade, weil die Energie, die sie mitbringt, ganz sicher hilfreich ist”, findet Dauerkarteninhaber Spyrou.

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Außerdem befürchten einige, dass die seit Jahren eingefrorenen, aber immer noch horrend hohen Dauerkartenpreise mit der neuen Erfolgswelle bald wieder steigen. Es gebe im Klub immer noch welche, die das Emirates gerne mehr in Richtung Royal Ascot – das noble Pferderennen voller reicher Prominenz auf den Rängen – entwickeln würden, unkte die “Ashburton Army” schon vor einem Jahr.

Falls das stimmt, gehört Arteta gewiss nicht dazu. Als er vor dem Porto-Spiel die Fans dazu animierte, “Lärm” zu machen und “jeden Ball mit uns zu spielen”, wurde er erhört. Die Bayern dürfen sich auf ähnliches einstellen.

Jörn Petersen