Kanes Passion, Southgates Problem und was Groß tippt

Kanes Passion, Southgates Problem und was Groß tippt

Trotz eines herausragenden Kaders geht England mit ein paar Sorgen und offenen Fragen in die EM 2024. Springt Trainer Gareth Southgate über seinen Schatten?

Begegneten sich schon in der Premier League: Harry Kane (li.) und Pascal Groß.

Begegneten sich schon in der Premier League: Harry Kane (li.) und Pascal Groß.

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Vor ihrem Auftaktspiel gegen Serbien am Sonntag (21 Uhr, LIVE! bei kicker) in Gelsenkirchen mussten die Engländer abseits der EM an diesem Samstag zunächst mal zwei traurige Nachrichten verarbeiten. Der frühere Stürmer des FC Arsenal Kevin Campbell verstarb im Alter von 54 Jahren nach kurzer Krankheit. Und auch der plötzliche Tod des erst 26-jährigen montenegrinischen Nationalkeepers Matija Sarkic vom Zweitligisten FC Millwall erschüttert Fußball-England kurz vorm Start in das Turnier in Deutschland.

Der Bogen zu diesem ersten Match am Sonntag lässt sich so natürlich schwer schlagen. Und manchmal bedarf es auch gar keiner künstlichen Überleitung, sondern nur der traurigen Feststellung, dass das Leben dennoch nicht lange innehält und der Fußball schon gar nicht. “Ein sehr trauriger Tag”, merkte Trainer Gareth Southgate bei seiner Pressekonferenz am Samstagabend passend an.

England also gegen Serbien – auf die Three Lions wartet gleich zu Beginn ein schwerer Brocken, zumal der Favorit nach einer zuletzt enttäuschenden Testspielserie mit nur einem Sieg aus den jüngsten vier Partien doch etwas verunsichert angereist ist. Das 0:1 gegen Island hat die entscheidende Frage aufgeworfen, ob es nur der berühmte Schuss vorn Bug zur rechten Zeit war, oder ob offensiv wie defensiv Prinzipielles im Argen liegt.

Southgate hat es in seinen bisherigen Turnieren versäumt, die taktischen Fesseln zu lösen

Hinsichtlich der Offensive ist das schwer zu glauben, denn was Besseres als die Engländer bringt in Summe in diesem Bereich kein anderer Teilnehmer aufs Eis. Hinter dem Weltklassestürmer Harry Kane wirbeln wahlweise gemeinsam oder individuell Bukayo Saka, Jude Bellingham, Phil Foden und Cole Palmer. Oder, um es mit Jürgen Klopp zu sagen: wow! Denn da hat Kane das Prädikat “Weltklasse” nicht exklusiv.

Doch wenn es so einfach wäre, müsste man sich aus englischer Sicht ja keine Sorgen machen. Das Problem: Diese Spieler sind Künstler, sehr kreativ, die muss man loslassen. Doch Southgate hat es in seinen bisherigen Turnieren versäumt, die taktischen Fesseln zu lösen, da war doch vieles, zu vieles auf Sicherheit bedacht. Auch diesmal? Wobei es natürlich nicht so ist, dass ein Foden bei Manchester City rumlaufen darf, wo er lustig ist, da ist von Pep Guardiola alles am Reißbrett geplant. Und so fehlen Foden möglicherweise in der Nationalelf manchmal genau diese klaren Vorgaben.

In Englands Abwehr musste derweil umdisponiert werden, daher könnte auch am Sonntag mit Abstimmungsschwierigkeiten zu rechnen sein. Harry Maguire fehlt. Dies sportlich als den Megaverlust zu bezeichnen, wäre angesichts manches Patzers des ManUnited-Profis in jüngerer Vergangenheit arg geheuchelt. Doch unbestritten sind trotz allem seine Ausstrahlung, Routine und enorme Stärke bei Standards. Und so werden John Stones und wohl Marc Guehi das Innenverteidiger-Duo bilden, flankiert von den Außenverteidigern Kyle Walker und Kieran Trippier. Letzterer wechselt von seiner angestammten rechten Seite in Newcastle auf die linke, weil Luke Shaw zumindest vorerst nur eine Alternative auf der Bank darstellt nach seiner jüngsten Verletzungspause.

Declan Rice ist als Sechser gesetzt, neben ihm dürfte Trent Alexander-Arnold spielen, aber Southgate war auch da bis zuletzt auf der Suche.

Im Tor herrscht Ruhe

Und so haben wir nun quasi über die ganze Startelf gesprochen, nur noch nicht über den Torwart Jordan Pickford. Das war nicht immer so bei den Engländern, das wissen alle, und es ist in diesem Fall dahingehend ein gutes Zeichen, dass der Keeper des FC Everton weitestgehend solide spielt. Manchmal gar überragend, hin und wieder für einen Wackler gut, aber in seinen 61 Länderspielen selten mit den ganz groben Aussetzern.

Southgate weiß, dass es sein letztes Turnier sein kann, “aber diesen Druck haben alle Coaches”. Er sei wahrscheinlich “etwas entspannter”, weil er schon drei große Turniere erlebt habe, er wisse, “wie es läuft”. Theoretisch ja, praktisch blieb er den letzten Beweis dafür schuldig, und das hat nichts damit zu tun, ob er ein Finale letztlich im Elfmeterschießen gewinnt oder wie 2021 gegen Italien verliert, sondern mit seiner mitunter merkwürdigen taktischen wie personellen Herangehensweise, auch in ebenjenem Endspiel.

Kane: “Es bedeutet die Welt für mich”

Natürlich ist Kane, sein Käpt’n, der, auf den nicht nur Southgate zählt, sondern quasi ganz England. Jener Kane, der noch keinen Titel mit einer Mannschaft gewonnen hat. Nicht mit Tottenham, nicht mit Bayern, nicht mit den Three Lions. Klar, dass er am Samstagabend den Medienvertretern sagte, endlich eine Trophäe mit der Mannschaft zu gewinnen, würde ihm “eine Menge bedeuten”. Doch den kleinen, aber feinen Unterschied formulierte er mit der Steigerung, was es ihm bedeute, überhaupt für England zu spielen: “Das bedeutet die Welt für mich.” Soll heißen: Seine Passion ist seine Leidenschaft, die Three Lions anzuführen, auf dem Platz und außerhalb, und beides gelingt ihm dank großartiger sportlicher und menschlicher Qualitäten. Zudem wurde er WM-Torschützenkönig 2018, und auch in seiner Wahlheimat will er nun bei dem kontinentalen Ländervergleich bester Schütze werden. Die Klasse dazu hat er, ebenso fraglos aber ist die starke Konkurrenz bei diesem Unterfangen.

Wer die englische Nationalmannschaft natürlich auch bestens kennt, ist der deutsche Nationalspieler Pascal Groß, denn er ist selbst in der Premier League bei Brighton & Hove Albion am Ball. Er war am Samstag, klar, nach dem Auftaktsieg am Tag zuvor gegen Schottland und seiner eigenen, ordentlichen Leistung (kicker-Note 3) bester Laune und sagte hinsichtlich der Three Lions gegenüber dem kicker: “Die Engländer haben eine Riesenqualität. Ich gehe davon aus, dass sie als Erster durch ihre Gruppe gehen. Bei den letzten Turnieren waren sie immer mit vorne dabei, und das glaube ich auch diesmal.”

Eine Einschätzung, die man teilen kann, wenn man das Potenzial sieht. Doch Serbien, aber dann auch die Dänen, wird der Weltmeister von 1966 nicht im Vorbeigehen schlagen. Dennoch ist die Gruppenphase für England eigentlich nur die Pflicht. Und die Kür, vielleicht gekrönt durch den zweiten großen Titel der Verbandsgeschichte bei den Männern, soll später folgen.

Thomas Böker