Nagelsmanns Kalkül ist klar

Nagelsmanns Kalkül ist klar

Selbstbewusst verzichtet Bundestrainer Julian Nagelsmann im EM-Eröffnungsspiel gegen Schottland auf personelle Überraschungen – und baut exakt auf jene Elf, die bereits im März absehbar war. Ein Kommentar von kicker-Reporter Matthias Dersch.

Vertraut auf die zuletzt eingespielte Mannschaft: Julian Nagelsmann.

Vertraut auf die zuletzt eingespielte Mannschaft: Julian Nagelsmann.

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Ausreden gibt es für Steve Clarke nach dem Spiel nicht, sollte sich seine schottische Mannschaft vom EM-Gastgeberland im Eröffnungsspiel überraschen lassen: Sein Gegenüber Julian Nagelsmann nämlich schickt um 21 Uhr exakt jene elf Spieler aufs Feld, die bereits beim März-Lehrgang absehbar waren: Im Tor steht Manuel Neuer, die Viererkette bilden (von rechts) Joshua Kimmich, Antonio Rüdiger, Jonathan Tah und Maximilian Mittelstädt. Auf der Doppelsechs ist Robert Andrich primär fürs Verteidigen zuständig und Toni Kroos neben ihm für den Aufbau. Davor sollen die Kreativen Jamal Musiala, Kapitän Ilkay Gündogan, Florian Wirtz und Kai Havertz für Tore sorgen.

Nagelsmanns Kalkül: Stabilität durch klare Aufgaben

Nach den verkorksten Länderspielen im November gegen die Türkei (2:3) und in Österreich (0:2) hatte sich Nagelsmann zu einer totalen Kehrtwende entschieden und mutige Personalentscheidungen getroffen. Er überzeugte Kroos zum Rücktritt vom Rücktritt und installierte ihn als neuen Kopf der Mannschaft. Zugleich erklärte er frühzeitig Neuer zu seiner Nummer 1 und führte mit allen weiteren EM-Fahrern Gespräche über ihre Aufgaben. Jeder Spieler in seinem Aufgebot wusste bereits Wochen vor dem Turnierstart, wie der Bundestrainer mit ihm plant.

Nagelsmanns Kalkül ist klar: Er will seinen auserkorenen Stammspielern den Rücken stärken, ihnen Vertrauen entgegenbringen und ihnen Sorgen nehmen. Den Spielern, die dahinter am nächsten dran sind, signalisierte er genau das – als klares Zeichen an Niklas Füllkrug, Pascal Groß und Leroy Sané, dass sie wichtig sind für den Erfolg der Gruppe. Für den Rest des Kaders führte er den Begriff des Rollenspielers ein, der in der Definition den einst von seinem Vor-Vorgänger Joachim Löw bei der WM 2014 eingeführten Spezialkräften ähnelt: Sie sollen in bestimmten Situationen eines Spiels helfen. Etwa, wenn es gilt, einen Rückstand aufzuholen oder einen knappen Vorsprung über die Zeit zu bringen. Dann könnte sie schlagen, die Stunde von Nico Schlotterbeck, Chris Führich, Deniz Undav oder von Routinier Thomas Müller.

Rätsel gibt Nagelsmann dem Gegner damit nicht auf

Die Gefahr dabei: Rätsel gibt man dem Gegner in der Spielvorbereitung mit so einem Ansatz nicht auf. Zumindest nicht in personeller Hinsicht. Ob Nagelsmanns Kalkül aufgeht und die vom Bundestrainer ausgemachten Vor- den offensichtlichen Nachteilen überwiegen, wird sich daher am Abend in der Münchner Arena erst noch erweisen müssen.

Dafür spricht: Richtige Geheimnisse gibt es im modernen Fußball ohnehin kaum noch. Zu gläsern sind die Akteure, zu umfangreich die Datensätze, die allen Mannschaften potenziell zur Verfügung stehen. Der berühmte Satz von Adi Preißler aus den 1950er Jahren gilt daher gewissermaßen noch immer: Grau is alle Theorie – entscheidend ist auf’m Platz! Um 21 Uhr gilt’s!