Diver über Kabinentisch und ein letzter Sprint: Dortmunds gestillte Sehnsucht

Diver über Kabinentisch und ein letzter Sprint: Dortmunds gestillte Sehnsucht

Ungläubige Blicke, wilde Umarmungen und der Diver über den nassen Kabinentisch: Borussia Dortmund feiert in Paris mit seinen Fans eine ausgelassene Party – und träumt vom ganz großen Triumph.

Bereit für die große Party: Noch in Paris feiern die Spieler von Borussia Dortmund ausgelassen den Einzug ins Champions-League-Finale.

Bereit für die große Party: Noch in Paris feiern die Spieler von Borussia Dortmund ausgelassen den Einzug ins Champions-League-Finale.

IMAGO/Jan Huebner

Aus Paris berichten Matthias Dersch und Patrick Kleinmann

Ungläubig blickt Marco Reus am späten Dienstagabend in das weite Rund des Pariser Prinzenpark-Stadions, die Hände auf die Wangen gelegt und den Mund offenstehend. Ist das wirklich passiert, scheint sich der Routinier, der den BVB im Sommer nach zwölf Jahren als Profi verlassen wird, in diesem Moment zu fragen. Kann das wirklich sein? Ja, es kann! Borussia Dortmund steht nach dem 1:0-Sieg bei Paris Saint-Germain im Finale der Champions League. Für den Klub ist das ein immenser Erfolg, elf Jahre nach dem bislang letzten Finaleinzug im Jahr 2013. Für Reus die Möglichkeit, seine Karriere mit dem größten Titel zu krönen, den der Vereinsfußball derzeit zu bieten hat.

Es ist auch der Moment von Edin Terzic

In den Minuten nach dem Schlusspfiff realisiert der 34-Jährige langsam, dass aus dem Traum Realität werden könnte, dass der Titel nur noch einen Sieg entfernt ist. Er legt seine Zurückhaltung ab – zumindest teilweise – und klettert zum Vorsänger auf die Tribüne. Die Humba stimmt er zwar nicht selbst an, aber er ist mittendrin in der schwarz-gelben Partygesellschaft, die keinen Unterschied mehr macht zwischen Spielern, Betreuern, Trainern und Fans. Es wird einfach nur gefeiert, umarmt, geherzt und gestrahlt.

Chmpions League, Halbfinale

Wenig später bekommt das auch Edin Terzic zu spüren, Dortmunds noch immer junger Trainer. Der 41-Jährige, unweit von Dortmund in Menden geboren und mit dem Klub sozialisiert, hat schwere Monate hinter sich. Die Kritik an ihm war laut, manchmal gar ätzend, weil es in der Liga nicht lief wie gewünscht. Doch jetzt, wie er so da steht, inmitten einer Traube aus völlig von den eigenen Gefühlen überwältigten Männern, ist er in der langen Historie des Klubs erst der dritte Trainer nach Ottmar Hitzfeld 1997 und Jürgen Klopp 2013, der den BVB ins Champions-League-Finale geführt hat.

Es ist auch sein Moment, in den Minuten nach dem Abpfiff. Das sieht man ihm an, wenn man ihn beobachtet, wie er nach dem Schlusspfiff seine Assistenten Sebastian Geppert, Nuri Sahin und Sven Bender umarmt. Wie er im Block bei den Fans steht. Wie er Mateu Morey, den so oft verletzten und für die Königsklasse deshalb gar nicht gemeldeten Rechtsverteidiger, herzt, nachdem der Spanier Zugang zum Innenraum bekommen hat. Und das hört man Terzic an in den zahlreichen Interviews, die er nach dem Spiel gibt.

“Niklas, du bist mein bester Freund!”

Nahezu jeder einzelne aus dem Dortmunder Tross hat seinen eigenen, ganz speziellen Moment an diesem Abend des 7. Mai 2024. Selbst der Busfahrer, der mit nacktem Oberkörper in der Kabine über einen nassen Tisch rutscht und dafür laut bejubelt wird. Klar, dass auch Alexander Meyer, das Feierbiest im BVB-Kader, sich nicht lumpen lässt und ebenfalls eine Rutschpartie abliefert. Man sieht das auf kurzen Videos, die die Spieler in den Sozialen Medien veröffentlichen. Euphorisiert und ohne Filter im Kopf, weil sie einfach nur raus muss, die ungekünstelte Freude.

Wie bei Marius Wolf, der sogar aus dem Mannschaftsbus live bei Instagram sendet, wie er und etliche Mitspieler laut grölend “Freed From Desire” schmettern, jenen Eurodance-Song aus dem Jahr 1996, der seit einigen Jahren in europäischen Fußballstadien zum Standardrepertoire der Fans gehört. “Niklas”, sagt Wolf schließlich zu seinen Nebenmann Niklas Süle, “du bist mein bester Freund!” Und der Eindruck drängt sich auf, dass der Innenverteidiger vermutlich nicht der Einzige ist, der das in der folgenden Nacht von Wolf hört. So glückselig wirkt der Rechtsverteidiger, der in seiner Karriere schon so manche Höhen und Tiefen erlebt hat – aber noch nie ein Champions-League-Finale.

Was Wolf und Co. nur aus der Ferne über die Sozialen Medien mitbekommen, das ist, was sich in der Heimat abspielt. Denn in Dortmund herrscht bereits unmittelbar nach dem Schlusspfiff der Ausnahmezustand – im positiven Sinne. Um den Borsigplatz schlängelt sich ein Autokorso, auf dem Alten Markt werden Bengalos gezündet, auf dem Königswall hupen Fans in ihren Autos, als habe ihr Team bereits den Titel gewonnen. Sie und ihr Team eint in diesem Moment die lange nicht gestillte Sehnsucht nach ehrlicher und unbeschwerter Freude – in der im Falle des BVB diesmal auch eine nicht unerhebliche Prise Erleichterung steckt.

Für den BVB stand in dieser Saison viel auf dem Spiel

Viel stand in dieser Saison auf dem Spiel, nachdem am letzten Spieltag der Vorsaison der Meistertraum geplatzt war und sich das Verhältnis zwischen dem Klub und seinen Fans merklich verkompliziert hatte. Die nationalen Wettbewerbe liefen nicht nach Wunsch, auch der Start in der Champions League missglückte mit einem 0:2 in Paris. Rund um Weihnachten herum drohte die Stimmung schließlich vollends zu kippen, die ersten Untergangsszenarien wurden da bereits entworfen: Was, wenn der Klub die Champions League verpassen würde? Würde Dortmund im Jahr des angekündigten Rückzuges von Klubboss Hans-Joachim Watzke ein schleichender Niedergang drohen?

Dortmunds Final-Einzug

Man muss diesen Kontext kennen, um zu verstehen, warum die Stimmung nach dem Sieg in Paris so befreit ist, wie sie ist, und warum etliche Spieler – darunter der überragende Nico Schlotterbeck und Marcel Sabitzer, Held des 4:2-Erfolgs im Viertelfinale gegen Atletico – um 23.22 Uhr noch einmal aus der Kabine auf den Rasen stürmen und einen letzten Sprint in die Kurve mit den 2000 mitgereisten BVB-Fans ansetzen. Die Antwort ist simpel: Weil das lange Leiden ein Ende hat. Zumindest bis zum 1. Juni, dem Tag des Finals.

Aus Dortmunds Team ist eine Mannschaft geworden

Denn Dortmund steht nicht nur im Endspiel. Der BVB hat sich auch für die nächste Champions-League-Saison qualifiziert – und für die Klub-WM. Weil die oft kritisierten Spieler in den entscheidenden Momenten Mentalität und Resilienz bewiesen. Weil der oft kritisierte Trainer in den Do-or-Die-Spielen die richtigen Mittel wählte. Und weil die oft kritisierte Mannschaft in der Königsklasse nachwies, dass sie tatsächlich eine Mannschaft ist.

Es ist nicht mehr nur Julian Ryerson, der selbstlos seinen Dienst verrichtet. Es sind inzwischen auch die Offensiven Niklas Füllkrug, Jadon Sancho und Karim Adeyemi, die die Extrameter gehen, während der Laden hinten von Gregor Kobel und seinen international extrem starken Innenverteidigern Mats Hummels und Schlotterbeck zusammengehalten wird.

Wunschgegner? Eigentlich egal

Doch natürlich ist der Weg noch nicht zu Ende, wird es eine Herausforderung, vier Wochen lang die Spannung hochzuhalten, um im Finale noch einmal über sich hinauszuwachsen. Gegen den FC Bayern oder Real Madrid, je nachdem, wer sich im zweiten Halbfinale am Mittwoch durchsetzt.

Fragt man die Spieler am Dienstagabend nach ihrem Wunschgegner, fällt die Antwort immer ähnlich aus: Man sei ja schon ein wenig patriotisch, also gerne die Bayern – aber eigentlich sei es auch egal. Der BVB schaut an diesem Abend nicht auf andere. Er schaut nur auf sich – und träumt weiter von dem, was in dieser Saison noch möglich ist. Und nicht nur Reus realisiert: Das ist eine ganze Menge!