Kempf: “Ich gehe wieder gern zur Arbeit”

Kempf: “Ich gehe wieder gern zur Arbeit”

Er kam im Januar 2022 vom VfB Stuttgart – und erlebte bei Hertha BSC eine lange Achterbahnfahrt. Im kicker spricht Marc Oliver Kempf (29) jetzt offen wie vielleicht nie zuvor über Tiefs, seinen geplatzten Italien-Transfer und Veränderungen in seinem Leben und seiner Einstellung zum Beruf.

Die Erwartungen bei der Verpflichtung des neuen Abwehrspielers waren klar. “Er wird uns mit seiner Präsenz, seinen Führungsqualitäten und seiner Mentalität in jedem Fall weiterhelfen”, sagte Herthas damaliger Sport-Geschäftsführer Fredi Bobic im Januar 2022 über Marc Oliver Kempf, den er vom VfB Stuttgart nach Berlin gelotst hatte. Was folgte, bringt Kempf mehr als zwei Jahre später auf den Punkt: “Es war Achterbahn pur.”

Der U-19-Europameister von 2014 und U-21-Europameister von 2017 fand lange Zeit nicht zur erhofften Beständigkeit – in einem turbulenten Umfeld. Nach dem Abstieg 2023 wollte er weg und musste Ende August, als Leicester City und vor allem Udinese Calcio ernst machten, bleiben. Interviews zählen nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Für dieses nimmt er sich nach einer Trainingseinheit mit Überlänge Zeit, antwortet reflektiert und spart kein Thema aus. Kempf spricht vor dem Spiel beim Karlsruher SC am Sonntag mit dem kicker über …

… das 4:0 gegen Hansa Rostock, bei dem Hertha nach elf Liga-Spielen mit Gegentoren erstmals wieder zu Null spielte: “Jeder war gierig gegen den Ball, jeder hat nach hinten mitgearbeitet. Wenn einer nicht den Ball gewonnen hat, kam ihm der zweite Mann zu Hilfe. Das haben wir bis auf die zehn Minuten nach der Pause das ganze Spiel durchgezogen. Dadurch haben wir Hansa nicht ins Spiel kommen lassen.”

… den Punkt, an dem Herthas Mannschaft gerade ist: “Verglichen mit den ersten Rückrunden-Wochen sind wir im Aufwärtstrend. Wir holen jetzt die Punkte, die wir vorher – zum Beispiel zu Hause gegen Kiel (2:2 nach 2:0, d. Red.) – liegen gelassen haben. In Paderborn hatten wir lange Probleme und haben am Ende einen ekligen Sieg geholt, das gehört dazu. Gegen Rostock hat fußballerisch vieles gepasst.”

Meine Herangehensweise an meinen Beruf hat sich geändert. Ich lasse gewisse Dinge nicht mehr so nah an mich heran wie früher.

Marc Oliver Kempf

… den Blick auf Platz 3: “Natürlich hat man die Tabelle im Blick. Es wird sehr, sehr schwierig, es müsste alles für uns laufen, aber rechnerisch ist es immer noch möglich, auf Platz 3 zu rutschen. So lange das so ist, sollte jeder die Hoffnung haben.”

… die bisherige Saison: “Nach den ersten drei Spielen mit null Punkten und null Toren hätte man vermutlich eher gedacht, dass wir nach unten aufpassen müssen. Aber wir haben dann relativ schnell den Turnaround geschafft. Und am Ende muss man sagen, dass wir ein paar Punkte verschenkt und zu wenig haben. Drei, vier Punkte mehr wären auf jeden Fall möglich gewesen. Hätten wir die, würden wir noch ganz anderen Druck auf Platz 3 machen können.”

… zwei Linksfüßer in der Innenverteidigung mit ihm und Marton Dardai: “Es ist für mich nicht völlig ungewohnt, rechts in der Innenverteidigung zu spielen. Letzte Saison gegen Dortmund war das mal der Fall. Es ändert sich für den Spielaufbau nicht so viel. Bei zwei Linksfüßern in der Innenverteidigung wird nachgefragt, bei zwei Rechtsfüßern nicht (schmunzelt). Es funktioniert mit Marton und mir. Wir verstehen uns auf dem Feld und auch privat sehr gut. Ich hoffe, dass wir zusammen weiter so performen können.”

… den Staubsauger und Ballfresser Deyovaisio Zeefuik auf der Sechs: “Er ist ein wichtiges Element. Wenn’s gegen den Ball geht, ist Deyo gut und gierig. Manchmal geht er bis an die Grenze des Erlaubten, aber er macht das gut auf der Position.”

… seine Reservisten-Rolle in den Wochen vor dem Rostock-Spiel: “Von meinem Anspruch will ich jedes Spiel starten. Aber ich konnte es verstehen. Ich war nach dem Fürth-Spiel Mitte Februar (zwei Tore beim 2:1-Sieg, dann Bänderanriss, d. Red.) fünf Wochen raus. Das zog sich länger hin als gedacht. Als ich zurück kam, gewann die Mannschaft gegen Schalke 5:2 und spielte gegen Nürnberg unentschieden. Dass du dann als Trainer nicht viel änderst, ist klar. Manchmal ist es hart, aber ich bin keiner, der dann böses Blut in die Mannschaft bringt. Es war auf meiner Liste, das Gespräch mit dem Trainer zu suchen und ihn zu fragen, wo ich gerade stehe und wie er mich sieht, aber dann drehte es sich für mich Richtung Rostock-Spiel.”

Kempf: “Ich bin jetzt absolut klar im Kopf.”

… Pal Dardais Kritik (“Wir kriegen zu viele Gegentore, und Kempfi ist leider oft dabei gewesen.”) im Januar nach dem 2:2 gegen Düsseldorf: “Früher habe ich mir den Kopf darüber mehr zerbrochen. Wenn man jünger ist, rattert es im Kopf noch etwas mehr. Die zwei Situationen gegen Düsseldorf haben der Trainer und ich in einem Gespräch besprochen. Man hat in den Wochen danach gesehen, dass mich das nicht aus der Bahn geworfen hat. Meine Reaktion kam im Training und in den Spielen.”

… seine über längere Zeit schwankenden Leistungen: “Ich hatte bis in die Vorrunde hinein keine einfache Zeit in Berlin. Wenn’s einem persönlich nicht so gut geht, wirkt sich das auch auf die Arbeit aus. Ich habe im Winter ein paar Entscheidungen getroffen, die richtig waren und die mir geholfen haben. Ich habe den Berater gewechselt, ich hatte das Gefühl, ich brauche jemanden Neues an meiner Seite. Ich habe in Richtung Wintertransferperiode intern frühzeitig gesagt, dass ich bleiben will. Und es gab noch ein, zwei Punkte mehr, wo ich etwas verändert habe. Ich bin jetzt absolut klar im Kopf.”

… seine Zusammenarbeit mit einem Psychologen: “Das hat mir eine Zeit lang sehr geholfen. Im Kern ging es darum, sich nicht zu sehr von seiner Emotionalität leiten zu lassen. Aber in letzter Zeit gab es keine Coachings mehr. Ich kann all das, was mich beschäftigt, wieder mehr im Privaten leben. Ich bin raus aus meinem Loch. Ich schaue nur noch nach vorn und will mehr solche Leistungen zeigen wie gegen Rostock. Meine Herangehensweise an meinen Beruf, an den Sport hat sich geändert. Ich lasse gewisse Dinge nicht mehr so nah an mich heran wie früher.”

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… den Sommer 2023, in dem er weg aus Berlin wollte, und Hertha BSC Ende August sein Veto gegen einen Wechsel zu Udinese Calcio einlegte: “Das war keine leichte Phase für mich. Es hat mich schon ein paar Wochen runtergezogen. Hertha hatte die Befürchtung, auf die Schnelle keinen Ersatz mehr zu bekommen. Es war das gute Recht des Klubs, so zu handeln. Trotzdem war ich ein bisschen enttäuscht über die Gesamtsituation. Und natürlich war den ganzen Sommer über zu spüren, dass der Markt seit Corona schwieriger geworden ist.”

… seine bisherige Zeit bei Hertha: “Es war Achterbahn pur. Der Start war sportlich und menschlich nicht so leicht. Ich kam aus Stuttgart und einer tollen Kabine. Das lief hier schon etwas anders. Ich habe relativ lange gebraucht, um mich hier wohlzufühlen und mich zu Hause zu fühlen. Ich hatte auch mit mir selber ein paar Probleme. Das alles hat nach dem Abstieg dazu geführt, dass ich im vergangenen Sommer gesagt habe, ich möchte Berlin verlassen. Im Winter habe ich Benjamin Weber (Sportdirektor, d. Red.) dann klar gesagt, dass ich bleiben will. Es entsteht gerade etwas, es sind neue Typen in der Mannschaft, eine andere Atmosphäre, ein Umfeld, das wieder Spaß macht. Es ist familiärer geworden. Ich gehe wieder gern zur Arbeit.”

Es gibt keinen Masterplan und keine Exit-Strategie für den Sommer. Ich hätte kein Problem damit, in Berlin zu bleiben.

Marc Oliver Kempf

… seine Strategie für den Sommer: “Ich habe für den Sommer keine Strategie. Meine Strategie ist, den Tag zu leben und nicht zu viel an morgen zu denken. Was der Klub vorhat, muss man sehen. Ich habe keine Fluchtgedanken. Ich fühle mich mittlerweile wohl in Berlin, meine Familie fühlt sich wohl.”

… den Reiz eines Wechsels ins Ausland: “Das Ausland ist seit dem Anfang meiner Karriere für mich ein Thema. Irgendwann dahin zu gehen und etwas Neues zu erleben, ist weiter ein Traum von mir. Aber nochmal: Es gibt aktuell keinen Masterplan und keine Exit-Strategie für den Sommer. Ich hätte kein Problem damit, in Berlin zu bleiben.”

… Herthas Berliner Weg und die Perspektive des Klubs: “Hertha ist ein großer Klub mit einer Riesen-Tradition, einer tolle Fan-Base und einem Super-Stadion. Was gerade passiert, macht Mut und Lust auf mehr. Der Klub wird wieder positiv wahrgenommen, es ist eine Euphorie entstanden, die tragen kann. Selbst wenn es dieses Jahr nicht für den Aufstieg reichen sollte, sehe ich für den Verein eine positive Zukunft. Es muss in dem Stil wie jetzt weitergehen. Es darf kein Harakiri mehr geben. Aber ich glaube, das wissen alle.”

Steffen Rohr