“Wunschkind” Fernie: Warum Darmstadt einen Aufsteiger suchte

“Wunschkind” Fernie: Warum Darmstadt einen Aufsteiger suchte

Etwas mehr als vier Monate nach dem Abschied von Carsten Wehlmann ist der Sportdirektorposten beim SV Darmstadt 98 wieder besetzt. Die Priorität für Paul Fernie ist erstmal klar: die Großbaustelle Kaderplanung.

Darmstädter Führungsriege: Der neue Sportdirektor Paul Fernie (l.) und Präsident Rüdiger Fritsch.

Darmstädter Führungsriege: Der neue Sportdirektor Paul Fernie (l.) und Präsident Rüdiger Fritsch.

IMAGO/Jan Huebner

Neun Grad und Regen. Eine englische Brise umweht an diesem Dienstag das Böllenfalltor. Die Szenerie passt zum Anlass. Der britische Akzent ist in jedem Wort allgegenwärtig. Doch Paul Fernie spricht bei seinem ersten Auftritt in Diensten der Darmstädter fließend und absolut verständlich in deutscher Sprache. “Was die Artikel ‘der, die, das’ angeht, werde ich immer meine Probleme haben”, erzählt der 37-Jährige lachend.

2016 kam Fernie von der Insel nach Deutschland. Zuvor als Scout der Blackburns Rovers im Einsatz, war er fortan Chef der Scouting Abteilung beim SV Wehen Wiesbaden. Die ersten Schritte waren vor allem sprachlich schwer: “Ich war in der Abendschule, zweimal in der Woche. Irgendwann habe ich einfach angefangen zu reden. Einfach reden und sich nicht so viele Gedanken machen.” Im Grunde beschreibt diese Aussage den Typen Fernie schon recht gut: Kommunikation und das menschliche Miteinander sind ihm besonders wichtiger.

Darmstadt 98 ist grundsätzlich nicht geeignet für One-Man-Shows.

Präsident Rüdiger Fritsch

Wäre er kein Teamplayer, würde er an diesem verregneten Dienstag gar nicht auf dem Podium in den Katakomben des Darmstädter Stadions sitzen. “Darmstadt 98 ist grundsätzlich nicht geeignet für One-Man-Shows. Wir leben hier immer noch von dem Thema: vier Menschen, sieben Aufgaben”, betont Präsident Rüdiger Fritsch. In erster Linie ist der SV Darmstadt 98 ein Fußballverein, der zuletzt auf der Suche nach einem Sportchef war. Die Kriterien bei dieser Suche unterscheiden sich dabei erstmal nicht groß von denen, die auch in München, Hamburg, Köln oder sonst wo in der Fußballnation zählen: Fachwissen, Vernetzung, Kommunikationsfähigkeit und Führungskompetenz.

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Erst jetzt wird es Lilien-spezifisch, wie Fritsch skizziert: “Über allem thronte der Punkt: Er muss die DNA von Darmstadt 98 verkörpern”. Fernie ist es offensichtlich gelungen, die Entscheider in den Bewerbungsgesprächen davon zu überzeugen. In die Karten gespielt hat ihm außerdem ein Fakt, der an vielen anderen Standorten im Profifußball eher ein Nachteil wäre. Die Erfahrung auf der ganz großen Bühne fehlt ihm noch. In verantwortlicher Position stehen “nur” drei Jahre als Sportlicher Leiter in Wiesbaden im Lebenslauf.

Eine Chance, kein Job

“Uns war ganz wichtig, dass jemand in der Lage ist, mit unseren Mitteln und den Gegebenheiten hier entsprechend auszukommen. Paul hat in Wiesbaden bei einem kleineren Verein gezeigt, was möglich ist”, erläutert Fritsch. “Wir hätten uns schwerer getan bei Kandidaten, die von oben nach unten gehen. Uns war wichtig, dass jemand von unten nach oben geht: Darmstadt 98 muss eine Chance sein, kein Job.” Und auch wenn es sich nicht seit rund neun Monaten abzeichnete: “Paul ist auf jeden Fall ein Wunschkind.”

Ob jetzt Job oder Chance – Fernie kann das Ganze auf Anhieb relativ großzügig mit seinen Ideen füllen. Elf Verträge laufen im Sommer aus, dazu kommen sechs Leihspieler. Zwangsläufig wird sich der Kader der Lilien in der kommenden Saison verändern. “Wir haben einiges zu tun, aber das ist normal. Ich mache mir keine Sorgen wegen dieser Situation. Ich sehe es als Möglichkeit, etwas Neues aufzubauen und meine Ideen einzubringen”, erklärt Fernie. Die Kaderplanung für die kommende Zweitliga-Saison genießt zwangsläufig höchste Priorität. Im Schnelldurchlauf geht es für ihn nun darum, sich einen Eindruck vom Team zu verschaffen und zu eruieren, wie die Mannschaft der Zukunft aussehen soll.

Viel Gestaltungsfreiheit

Mit der Zeit kann sich Fernie dann weiteren Baustellen widmen. “Die Scoutingabteilung braucht Manpower”, ist ein Beispiel, dass Fernie anspricht. Der Zuschnitt des Aufgabenfelds hat sich nicht verändert. Fernie rückt auf dem Papier eins-zu-eins in die Lücke, die Wehlmann hinterließ. “Paul hat eine relativ große Gestaltungsfreiheit”, kündigt Fritsch an. “Da geht es jetzt darum, wie er die Chance nutzt, sich zu verwirklichen im Wohle des Vereins.”

Vereinswohl ist das Stichwort. Der Abgang von Wehlmann direkt vor dem Wintertransferfenster stieß in Darmstadt auf wenig Verständnis. Jetzt profitieren die Lilien selbst davon, dass der Nachfolger ebenfalls keine allzu große Rücksicht auf die Befindlichkeiten seines nun ehemaligen Arbeitgebers nimmt. Dass Fernie inmitten des Zweitliga-Abstiegskampfs beim SV Wehen Wiesbaden eine Ausstiegsklausel zum Saisonende gezogen hat, sorgte in der hessischen Landeshauptstadt für mächtig Verstimmung. Der 37-Jährige wurde sofort freigestellt – wie Wehlmann im Dezember.

Auf Wehlmanns Spuren

Fernie zeigt Verständnis für den Unmut: “Das kann ich total nachvollziehen. Ich habe mir mein Ende in Wiesbaden anders vorgestellt und gewünscht.” Genau wie den Lilien in der Causa-Wehlmann die vertragliche Lage zum Verhängnis wurde, erging es jetzt dem SVWW: “Die Vertragskonstellation, die beim SV Wehen vorgeherrscht hat, haben wir nicht gemacht. Da darf man dann zum Schluss auch nicht zu böse sein. Wir haben nichts Unlauteres gemacht, sondern die Situation, die selbst in Wehen geschaffen wurde, genutzt. Das ist das Fußballgeschäft.”

Bleibt Fernie diesem Weg treu und tritt auch sportlich in die Fußstapfen seines über fünf Jahre erfolgreich wirkenden Vorgängers, haben sie in Darmstadt einen guten Fang gemacht. Sein Vertrag läuft vorerst bis zum 30. Juni 2027.

Moritz Kreilinger