“Der schönste Fußball in Europa”: Wie Leverkusen 2002 die Champions League aufmischte

Am 15. Mai 2002 steht Bayer 04 Leverkusen im Finale der Champions League, nachdem das Team einen Hochkaräter nach dem anderen ausgeschaltet hat. Über eine Saison, in der sogar die gegnerischen Fans stehend applaudierten.

Ein Tor im Champions-League-Finale: Bayer Leverkusen bejubelt am 15. Mai 2002 das 1:1 durch Lucio.

Ein Tor im Champions-League-Finale: Bayer Leverkusen bejubelt am 15. Mai 2002 das 1:1 durch Lucio.

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Lange, sehr lange ist der Ball unterwegs und senkt sich in den Leverkusener Strafraum. Trotzdem hat Zinedine Zidane eine Menge Zeit, nimmt die Kugel volley aus der Luft und trifft mit links ins kurze Eck. Perfekte Haltung, ein toller Schuss, dennoch nicht ganz unhaltbar für Torhüter Hans Jörg Butt. 2:1 führt der hohe Favorit im Finale der Champions League in Glasgow, doch Bayer 04 ist den Königlichen nicht nur ebenbürtig, nein: Die Werkself ist im Hampden Park über weite Strecken die überlegene Mannschaft gegen Real Madrid und drängt mit Macht auf den Ausgleich.

Eine ganz besondere Mannschaft schickt Bayer Leverkusen ins Rennen 2001/02, eine nahezu perfekte Mischung aus Strategen und genialen Fußballern, ein Team, das europaweit begeistert und im Frühjahr Titelchancen in allen drei Wettbewerben besitzt. Am Ende geht das Spieljahr in die Chronik ein als die Saison, in der der Klub seinen Ruf als “Vizekusen” zementiert.

Ersatzmann Casillas wächst über sich hinaus

Den deutschen Meistertitel vergeigt die Mannschaft auf der Zielgeraden, Borussia Dortmund schnappt sich die Trophäe. Im Pokalfinale unterliegt die Mannschaft von Klaus Toppmöller gegen Schalke. Die letzte Möglichkeit, eine grandiose Saison mit einem Titel zu krönen, ergibt sich also gegen die Königlichen – und die Mannschaft bringt den hohen Favoriten in arge Bedrängnis.

Angriff auf Angriff tragen die Leverkusener in den Strafraum von Real, doch Torhüter Iker Casillas, erst nach der Pause für den verletzten Cesar Sanchez eingewechselt, wächst über sich hinaus und ist nicht zu bezwingen. Alleine in der Nachspielzeit zeigt er drei tolle Paraden. Trotz großer Leistung also geht das Finale verloren.

“Bayer weint wieder”, titelt der kicker. Es fehlt die Krönung einer unglaublichen Saison mit einer spielfreudigen und offensivstarken Mannschaft, die vielen als die stärkste in der Leverkusener Vereinsgeschichte gilt. Angeführt von Trainer Toppmöller, der seine Stars wirbeln lässt und mit dafür sorgt, dass die oft skeptisch betrachtete Werkself europaweit Sympathien für ihre mitreißende Spielweise gewinnt.

“Diese Saison”, sagt er Jahre später, “war ein absoluter Traum, auch weil uns vorher praktisch keiner auf die Rechnung hatte.” Freudig wie ein Fan erlebt der Trainer die Kräftemessen mit den Top-Klubs des Kontinents, kann dabei aber auch Ausnahmekönner wie Michael Ballack, Lucio, Bernd Schneider, Jens Nowotny, Diego Placente, Carsten Ramelow, Zé Roberto und Yildiray Bastürk ins Rennen schicken. “Toppi führte die Mannschaft mit großer Begeisterung”, kommentiert Reiner Calmund, damals Manager, die fruchtbare Verbindung, und er hat auch mich damit angesteckt. Dabei bin ich ja schon ein abgebrühter Hund gewesen.”

“Diese Mannschaft treibt Europas Fußball-Adel die Schamesröte ins Gesicht”

Die Vorrunde übersteht Bayer als Gruppenzweiter, hinter dem FC Barcelona, vor Lyon und Fenerbahce, und marschiert auch unangefochten durch die Zwischenrunde. “Diese Mannschaft spielt rotierenden Kombinationsfußball und treibt Europas Fußball-Adel die Schamesröte ins Gesicht”, schwärmt die Gazzetta dello Sport.


Michael Owen, Zoltan Sebescen, Michael Ballack

Auch Michael Owen und Liverpool hatten das Nachsehen: Ein überragender Michael Ballack (re.) führte Leverkusen durch die K.-o.-Phase.
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Toppmöllers Truppe lässt in der zweiten Gruppenphase Juventus Turin und Arsenal hinter sich, schafft den Sprung in die nächste Runde schließlich durch ein 3:1 bei Deportivo La Coruna mit einem überragenden Ballack, der womöglich die beste Saison seiner Karriere hinlegt – seine letzte unterm Bayer-Kreuz vor seinem Wechsel zum FC Bayern. “Wir haben alles und jeden an die Wand gespielt”, sagt der damalige Torwarttrainer Toni Schumacher in Erinnerung an diesen Siegeszug, national wie international. “Es war so geil, dieser Mannschaft zuzuschauen.”

Der Kader ist eigentlich nicht breit genug aufgestellt für die hohen Anforderungen, aber trotzdem scheint diese Mannschaft kaum zu stoppen. “Wir hatten alle gar keine Zeit, viel darüber nachzudenken, was wir da gerade leisten“, erklärt Toppmöller, “es ging ja in allen drei Wettbewerben immer weiter, Schlag auf Schlag.”

Standing Ovations im Old Trafford: Selbst die United-Fans applaudieren

Beispiel Liverpool: Trotz eines 0:1 an der Anfield Road schaltet die Werkself im Viertelfinale auch die Reds aus und setzt sich zu Hause mit einem 4:2 durch. Noch stärker aber ist der Auftritt im ersten Halbfinale gegen Manchester United. “Für mich war dieses 2:2 unser bestes Spiel überhaupt”, erinnert sich Toppmöller. “Die United-Anhänger haben unsere Leistung mit Standing Ovations honoriert.”

Leverkusens Weg ins Champions-League-Finale

Ziemlich glücklich übersteht Bayer das Rückspiel in der BayArena, denn Manchester erweist sich hier als die bessere Mannschaft. Das Glück muss helfen, als Diego Placente kurz vor Schluss noch einen Schuss von Diego Forlan von der Linie kratzt. Leverkusen steht tatsächlich im Finale, einmal mehr ist Ballack der Spiritus Rector. “Nach diesem Spiel”, so Calmund, “habe ich Michael Ballack zum Ritter geschlagen, weil der alles abgegrätscht und weggeputzt hat, das war sensationell.”

Wir haben seinerzeit den schönsten Fußball in Europa gespielt.

Leverkusens Trainer Klaus Toppmöller

Der Preis für den Einzug ins Finale allerdings ist hoch: Jens Nowotny hat sich im Rückspiel gegen United einen Kreuzbandriss zugezogen, Zé Roberto fehlt im Finale gesperrt, insgesamt schwinden langsam aber sicher die Kräfte. Des Trainers Vorgabe dennoch gegen den hohen Favoriten: kein Abwarten, kein Taktieren, voll drauf wie immer! “Wir haben seinerzeit den schönsten Fußball in Europa gespielt”, schwärmt Toppmöller auch heute noch, “auch deshalb wollten wir uns auf keinen Fall hinten reinstellen, sondern das Spiel selber bestimmen.”

Tatsächlich, Bayer ist über weite Strecken die bessere Mannschaft – und das gegen eine Elf mit Stars wie Figo, Roberto Carlos, Raul und Zidane, “als sie noch kein Moos auf dem Rücken hatten”, wie es Calmund ausdrückt. Doch auch gegen diese Spitzenkönner hält Bayer voll dagegen. Im Gegensatz dazu baut Real auf einen überragenden Torwart, der beste Leverkusen Chancen zunichte macht.

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Real übersteht die Sturm- und Drangphase der Deutschen und holt zum neunten Mal den Henkelpott. “Ein bisschen Glück hat gefehlt, vielleicht auch ein bisschen Qualität gegen diese Weltklasse-Mannschaft”, meint Defensivstratege Ramelow im Rückblick. “Wir haben Real sicher mächtig beeindruckt, aber Casillas war an diesem Abend nicht zu bezwingen.”

Still ist es anschließend in der Kabine. “Der Stolz auf unsere Leistung”, so Ramelow, “kam erst viel später.” Stolz auf eine überragende Saison mit spektakulären Auftritten. Auch ohne Krönung. Butt, Ramelow, Ballack, Schneider und Oliver Neuville werden dann auch noch bei der WM Zweiter. Wieder Vize.

Oliver Bitter