Wie die georgischen “Gallier” Spanien ärgern könnten

Wie die georgischen “Gallier” Spanien ärgern könnten

In wohl keinem anderen Achtelfinale ist die Favoritenrolle so klar verteilt. Spanien wird am Sonntagabend sicherlich Georgien schlagen. Oder doch nicht? Die Gallier haben schließlich auch die Römer besiegt …

Als Underdog im Achtelfinale, doch für Spanien trotzdem gefährlich: Die Nationalmannschaft Georgiens.

Als Underdog im Achtelfinale, doch für Spanien trotzdem gefährlich: Die Nationalmannschaft Georgiens.

IMAGO/Sven Simon

Sapchulis sgapari! Das sind keine Buchstabendreher, sondern das bedeutet “Sommermärchen”. Und zwar auf Georgisch. Denn egal, wie das Match gegen die Iberer am Sonntagabend in Köln auch ausgehen mag, diese erste EM-Teilnahme ist jetzt schon ganz zauberhaft für den Underdog, dessen Heimat zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer liegt. Die Begeisterung dort war schon vor dem ersten Spiel in Deutschland groß, mittlerweile ist die Freude riesig.

Wer am Mittwoch in Gelsenkirchen gesehen hat, welche Gefühlsexplosion das 1:0 durch Khvicha Kvaratskhelia ausgelöst hat, wie die ganze Mannschaft, die komplette Bank, alle Fans vor Freude tanzten, der konnte erahnen, dass diese Einheit gemeinsam alles geben würde, um diesen Vorsprung gegen Portugal ins Ziel zu retten. Am Ende wurde es sogar ein 2:0, ein verdientes obendrein.

Sich “zwischen den Linien” zu bewegen, wird schwer für die Spanier

Aber das war eben Portugals B-Elf, nicht Spaniens erste Garde. Und doch wird das Team von Trainer Willy Sagnol auch diesem Gegner wehtun können, sofern es nicht nervös wird, keine verrückten Sachen macht und sich selbst treu bleibt.

Denn Georgien kann nicht nur fighten, sondern auch sehr gut Fußball spielen. Vor allem aber ist diese Truppe hervorragend organisiert. Wenn die Spanier versuchen, im Mittelfeld ihr gepflegtes Kurzpassspiel aufzuziehen, müssen sie in der Zentrale drei Sechser überwinden. Diese verschieben enorm gut, sind sehr lauffreudig, decken zu dritt dadurch fast die gesamte Breite ab, zumindest das, was gerade ballnah relevant ist, und wenn es nicht reicht, schieben zwei fleißige Schienenspieler hoch – und aus dem 5-3-2 wird ein 4-4-2 oder, wenn beide rausstechen, ein 3-5-2. Das alles übrigens sehr kompakt. Sich “zwischen den Linien” zu bewegen, wird also schwer für die Spanier, weil diese Räume sehr klein sind.

Da muss man sich erstmal durchkombinieren

Da Spaniens Flügel im Gegensatz zu anderen Mannschaften gerne breit bleiben, ist die Fünferkette ein probates Mittel, um sie ab- und einzufangen, auch durch Doppeln des ballnahen Innenverteidigers, den es brauchen wird, um einen Lamine Yamal zu stoppen. Der spanische Jungstar wird dann sein Repertoire (oft zieht er berechenbar mit links nach innen) erweitern müssen. Da die Schienenspieler dann also eher hinten gebraucht werden, müssen die beiden Stürmer umso mehr mit nach hinten arbeiten, noch tiefer den Weg auf das Genie Rodri zustellen.

Da muss man sich insgesamt jedenfalls erstmal durchkombinieren. Die Türken benötigten nicht zufällig zwei wunderbare Treffer aus der Distanz zum Sieg, Patrik Schicks Tor für Tschechien war eher ein Zufallsprodukt, Portugal ging leer aus.

Georgien kann auch mit der Kugel umgehen

Doch Georgien kann auch mit der Kugel umgehen. Schnörkellose Umschaltmomente, schlaue Läufe in die Tiefe und eine gute Strafraumbesetzung bei organisierten Angriffen zeichnen die Georgier aus. “Kvaradona”, wie der Torschütze des 1:0 nicht nur wegen seines prominenten Arbeitgebers SSC Neapel genannt wird, vereint Spielwitz und Tempo mit Präzision im Abschluss. Sein Sturmpartner Georges Mikautadze, der zweite Torschütze und Vorlagengeber zur Führung, stiftet ständig Unruhe beim Gegner.

Sagnol, der Vater dieses Erfolges, der beim 1:0 cool blieb und beim Elfmeter zum 2:0 nicht hinschauen konnte vor Anspannung, sagt völlig richtig: „Der georgische Verband hat in den letzten Jahren großartige Arbeit geleistet. Wir haben Spieler, die nicht nur gewinnen wollen, sondern auf eine schöne Art und Weise.“ Natürlich weiß der Mann, der 2001 Champions-League-Sieger mit Bayern wurde und 2017 mal kurzzeitig Interimstrainer der Münchner war, wie die Rollen gegen Spanien verteilt sind: “Sie haben vielleicht die beste Mannschaft des bisherigen Turniers.” Doch er verspricht auch: “Wir werden wieder bis zur letzten Minute kämpfen.”

Die große Freude über das Achtelfinale wird ihnen keiner mehr nehmen

Einen Zaubertrank wie einst Obelix haben sie nicht im Sortiment, aber auch eine große Portion Herz und Leidenschaft. Sie brauchen Glück, einen guten Tag, einen schlechten der Spanier und Zutrauen in ihre Fähigkeiten. Nur als Einheit haben sie eine kleine Chance, denn manche Spieler kicken bei Zweitligisten und sind individuell natürlich nicht so gut wie die Spanier. Aber: Die taktischen Voraussetzungen, dem Favoriten das Leben zumindest schwer zu machen, bringen sie mit. Und wenn es ihnen nicht gelingt, wird ihnen die große Freude über den Einzug ins Achtelfinale dennoch keiner mehr nehmen.

Thomas Böker