Lambert: “Wenn uns die Deutschen unterschätzen, wird es gefährlich für sie”

Lambert: “Wenn uns die Deutschen unterschätzen, wird es gefährlich für sie”

40 Länderspiele absolvierte Paul Lambert (54) und nahm an der WM 1998 teil. Nun hofft er, dass seine Schotten das Achtelfinale der EM erreichen.

Der ehemalige Dortmunder Paul Lambert war ein lauf- und zweikampfstarker defensiver Mittelfeldspieler, der mit den Borussen 1997 die Champions League gewann (3:1 gegen Juventus Turin). Nach dem Ende seiner aktiven Karriere arbeitete er als Trainer, unter anderem in der Premier League bei Aston Villa, zuletzt 2021 bei Zweitligist Ipswich Town.

Herr Lambert, was fällt Ihnen ein, wenn Sie an den 19. November 2003 denken?
Um Himmels willen. Was war da?

Damals verlor Schottland im Play-off-Rückspiel der EM 2004 in den Niederlanden 0:6.
Oh Gott, daran kann ich mich erinnern. Ein schwarzer Tag für den schottischen Fußball.

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Schottland hatte im Hinspiel in Glasgow 1:0 gesiegt. Wie konnte es zu so einem Einbruch im Rückspiel kommen?
Ich behaupte heute noch: Gegen jedes andere Team in den Play-offs hätte Schottland damals die Qualifikation geschafft. Die Niederlande waren zu dieser Zeit eines der besten Teams in Europa – mit Spielern wie Edwin van der Sar, Edgar Davids, Clarence Seedorf, Patrick Kluivert, Wesley Sneijder, Ruud van Nistelrooy oder Arjen Robben.

Sie haben Ihr letztes Länderspiel für Schottland im September 2003 in der EM-Quali gegen Deutschland bestritten. Was war in den Play-offs?
Ich war leider verletzt, ich hatte eine Knöchelblessur. Für mich war es sehr enttäuschend, die Play-offs nicht zu spielen. Aber es ging einfach nicht. Das waren harte Tage für mich

Sie haben mit Schottland 1998 an der WM in Frankreich teilgenommen. Sind Sie mit Ihrer Länderspiel-Karriere im Rückblick zufrieden?
Das bin ich. Ich war schließlich ein Spätberufener, was meine internationale Karriere angeht. Ich hatte für den FC Motherwell, einen schottischen Mittelklasseklub, gespielt und mit dem Nationalteam nichts zu tun, bis ich 1996 zum BVB kam. Erst dann startete meine internationale Karriere, mit 26 Jahren. Damals war ich dann auf dem Höhepunkt.

Kommen wir zur heutigen Generation Schottlands. Was macht diese Ihrer Ansicht nach aus? 
Wir haben einen guten Kader, finde ich. Wir haben einige Spieler bei großen Klubs. Andy Robertson beim FC Liverpool, Scott McTominay bei Manchester United, Kieran Tierney bei Real Sociedad San Sebastian oder John McGinn bei Aston Villa. Hinzu kommt Callum McGregor bei Celtic Glasgow. Viele unserer Nationalspieler sind auf einem hohen Level unterwegs.

Welche Defizite hat das Team?
Wir haben nicht wirklich einen Angreifer, der regelmäßig trifft. Wenn wir einen Torjäger wie Harry Kane hätten, wären wir sehr gut. Aber Schottland hatte nie einen Stürmer, der Top-Quoten hatte. Wir hatten Top-Spieler und auch gute Stürmer, aber wir hatten keine Tormaschine.

Schottland hatte in den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren internationale Top-Spieler wie Dennis Law, Billy Bremner, Kenny Dalglish, Joe Jordan, Peter Lorimer, John Robertson, Jan Wark, Gordon Strachan, Brian McClair oder auch Graeme Souness. Wem trauen Sie aus der aktuellen Mannschaft eine internationale Top-Karriere zu?
Andy Robertson ist meines Erachtens schon einer der besten Linksverteidiger, die es in Europa gibt. John McGinn von Aston Villa ist ein hervorragender Mittelfeldspieler, ebenso Scott McTominay. Auch Kieran Tierney ist top. Wir haben Spieler, die auch Deutschland helfen könnten. Wenn die Deutschen uns bei der EM unterschätzen, kann das gefährlich werden für sie.

Sie loben Scott McTominay sehr. Was macht ihn aus?
Er ist sehr stark, wenn er aus dem Mittelfeld in die Box kommt. Sein Timing, wann er den Weg vor das gegnerische Tor gehen muss, ist herausragend. Und er hat sehr gute Qualitäten im Abschluss.

Schottland ist erst zum vierten Mal bei einer EM dabei. Warum gelang die Qualifikation nicht häufiger?
Wir sind eben nur ein Land mit fünf Millionen Einwohnern. Wir sind ein kleines Land, wir sind abhängig von einer guten oder weniger guten Spieler-Generation. Da kann es passieren, dass man sich für ein Turnier nicht qualifiziert. Wir sind nicht Deutschland, eine große Fußball-Nation mit 80 Millionen Einwohnern.

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Seit 1998 vergingen 23 Jahre, ehe Schottland 2021 wieder an einem großen Turnier teilnahm. Wo sehen Sie den schottischen Fußball momentan?
Momentan bin ich zufrieden mit dem Fußball in unserem Land. Wir spielen auf einem hohen Level, weil wir eine gute Spieler-Generation haben. Lange Zeit haben wir nicht wirklich mit den Top-Nationen mithalten können, jetzt können wir es wieder. Und in unsere U 21 sind auch gute Jungs.

Kommen wir zur EM. Schottland bestreitet das Eröffnungsspiel gegen die DFB-Elf. Womit rechnen Sie?
Die deutsche Öffentlichkeit, die deutschen Medien und alle im Land erwarten, dass Deutschland gewinnt und sehr weit kommt oder gar das Turnier gewinnt. Schottland hat keinen Druck. Aber ihr wisst alle, was die schottischen Fans an Stimmung veranstalten können, und mit diesem immensen Rückhalt sind wir zu einigem fähig. Unsere Mannschaft freut sich auf das Spiel und auf die große Bühne. Deutschland ist Favorit und steht unter Druck.

Musiala und Wirtz im schottischen Team, das wäre überragend.

Paul Lambert

Kann Schottland Deutschland Paroli bieten?
In einem Spiel immer. Das Eröffnungsspiel ist für den Gastgeber eines Turniers oder die Favoriten immer sehr schwierig. Bei der WM 1998 haben wir das Eröffnungsspiel gegen Titelverteidiger Brasilien mit Ronaldo, Roberto Carlos, Cafu oder Rivaldo 1:2 verloren, aber es war ein Spiel auf Augenhöhe und sehr eng.

Was wäre für Sie ein erfolgreiches Abschneiden der Schotten bei der EM?
Wenn wir die Gruppenphase überstünden, wäre das fantastisch. Wenn wir im Eröffnungsspiel gegen Deutschland gewinnen oder unentschieden spielen sollten, dann könnte das einen Schub geben.

Was denken Sie über die Gruppengegner Ungarn und die Schweiz?
Das sind für uns gefährliche Gegner. Denn in Schottland wird schon erwartet, dass wir beide Teams schlagen können. Aber die Schweiz und auch Ungarn sind gute Teams.

Was sagen Sie zum schottischen EM-Kader?
Wir haben einen sehr guten Spielerkader, und es gibt keine wirkliche Überraschung bei den Spielern, die ausgewählt wurden. Wir sind also stark und bereit für den Wettbewerb.

Ist dem BVB noch immer verbunden: Paul Lambert.

Ist dem BVB noch immer verbunden: Paul Lambert.
IMAGO/PA Images

In Deutschland herrschte Ende 2023 eine fatalistische EM-Stimmung. Durch die Siege gegen Frankreich und die Niederlande ist Euphorie entstanden. Wie beurteilen Sie momentan das DFB-Team?
Die Ergebnisse und Leistungen in Frankreich und gegen die Niederlande haben nicht nur die Stimmung in Deutschland gedreht, sondern auch gezeigt, was möglich ist. Mit Jamal Musiala und Florian Wirtz hat Deutschland zwei junge absolute Top-Spieler im Team. Hinzu kommen erfahrene Weltklasse-Akteure wie Manuel Neuer, Toni Kroos oder auch Ilkay Gündogan. Dann Kai Havertz von Arsenal oder die Spieler aus Stuttgart, die auf einer Welle der Euphorie reiten. Deutschland hat ein sehr gutes Team.

Julian Nagelsmann hat seinen Vertrag jüngst bis 2026 verlängert. Eine richtige Entscheidung des DFB? Und was halten Sie von Nagelsmann?
Er ist ein junger Mann, aber schon mit einer unglaublichen Erfahrung. Julian ist ein wirklich guter Trainer. Insofern finde ich es für die Kontinuität richtig, dass man mit ihm vor dem Turnier verlängert hat.

Bei Stadien, Zuschauerzahlen und Atmosphäre ist die Bundesliga die Nummer eins.

Paul Lambert

Welchen deutschen Spieler hätten Sie gerne im schottischen Team?
Musiala und Wirtz im schottischen Team, das wäre überragend.

Die Premier League gilt als Mekka, aber zwei Bundesligisten standen beziehungsweise stehen in europäischen Finals. Was sagt das über die Bundesliga und den deutschen Fußball?
Ich habe die Bundesliga immer als eine der stärksten Ligen in Europa eingeschätzt – ich war nie der Meinung, dass die Bundesliga hinter England hinterherhinkt. Die Bundesliga bietet sehr gutes Niveau, und was die Stadien, die Zuschauerzahlen und die Atmosphäre angeht, ist sie ohnehin die Nummer eins. Ich war unlängst bei Hansa Rostock, St. Pauli und Hannover. Das waren drei Zweitliga-Standorte, und die Atmosphäre war unglaublich. Ich liebe die Bundesliga.

Interview: Andreas Hunzinger