Wann muss der Schiedsrichter zum VAR-Check raus? Aytekin bringt Licht ins Dunkel

Wann muss der Schiedsrichter zum VAR-Check raus? Aytekin bringt Licht ins Dunkel

Über kaum ein Thema wird im Fußball so leidenschaftlich diskutiert wie den VAR. Immer wieder kommt dabei die Frage auf, nach welchen Regeln die Schiedsrichter überhaupt verfahren. Deniz Aytekin gibt äußerst interessante Einsichten.

Argusaugen: Schiedsrichter Deniz Aytekin schaut bei Marco Reus (Mi) und Amadou Haidara genau hin.

Argusaugen: Schiedsrichter Deniz Aytekin schaut bei Marco Reus (Mi) und Amadou Haidara genau hin.

IMAGO/Karina Hessland

45 Jahre ist Deniz Aytekin mittlerweile alt und hat schon eine Menge Spiele – national wie international – geleitet, allein in der Bundesliga kommt er auf bislang 235 Einsätze. In der laufenden Saison stand er 17-mal in der höchsten deutschen Spielklasse auf dem Platz und bewies dabei mit einem kicker-Notenschnitt von 2,32, dass er noch immer zur deutschen Elite zählt.

Eine seiner schlechteren Leistungen lieferte er bei Leipzigs 4:1-Sieg über Dortmund ab – unter anderem hatte er damals einen Foulelfmeter für RB nach vermeintlichem Foul von Salih Özcan an Dani Olmo gegeben, diesen nahm er aber nach VAR-Check wieder zurück. Im Podcast kicker meets DAZN sprach Aytekin nun ausführlich über diese Szene und verriet, dass er “zu schnell gepfiffen” und eine “falsche Wahrnehmung” gehabt habe.

Der Betriebswirt nutzte besagte Szene, um zu erklären, wie man im deutschen Schiedsrichterwesen den VAR handhabe. Aytekin betonte dabei explizit, dass der Videoassistent im Grunde keinen eigenen Entscheidungsspielraum habe, denn letzten Endes ist es immer der Schiedsrichter, der zu entscheiden habe. Eine Ausnahme gibt es jedoch bei “faktischen Entscheidungen”. Darunter sind klar messbare Fakten zu verstehen, also etwa die Frage, ob ein Foul innerhalb oder außerhalb des Sechzehners stattgefunden habe – oder ob es Abseits war oder nicht.

Kommunikation ist das A und O: Deniz Aytekin spricht mit dem VAR.

Kommunikation ist das A und O: Deniz Aytekin spricht mit dem VAR.
IMAGO/Sportfoto Rudel

Wann muss der Schiri raus – und wann nicht?

In solchen Fällen könne der VAR den Schiedsrichter einfach korrigieren, ohne dass dieser raus müsse. “Weil es eine faktische Entscheidung ist. Ich muss da nichts bewerten”, erklärte Aytekin und betonte, dass die Lage bei allem, “was interpretierbar ist”, anders aussehen würde. “Da muss ich selber ran, weil ich die Verantwortung habe.” Im Kern bedeutet das also, dass sich der Schiedsrichter jede Szene selbst in der Review-Area anschauen sollte – oder nicht?

Keineswegs, betont Aytekin und gibt Einblick in den Prozess. “Wir haben da eine recht klare Vorgehensweise”, so der 45-Jährige und erklärte den “Grundablauf: Wenn ich als Schiedsrichter eine Wahrnehmung auf dem Platz habe, dann äußere ich die und beschreibe sie.” Dann kommt es darauf an, ob es “eine Diskrepanz zwischen meiner Wahrnehmung und den Bildern” gibt. In so einem Fall erhält der Schiedsrichter einen Hinweis und dann würde er sich die Szene also noch einmal selbst anschauen. Ein blindes Vertrauen zwischen Schiedsrichter und Videoassistent sei demnach ausgeschlossen.

Was soll er mir denn Neues präsentieren.

Deniz Aytekin über den Fall, dass es zwischen TV-Bildern und seiner Wahrnehmung keine Diskrepanz gibt

Aytekin verweist aber auch darauf, dass es eben nicht immer eine Diskrepanz gibt und erklärt: “Wenn sich eine Situation, die ich beschreibe, exakt mit den Bildern deckt – und es mag ja sein, dass es aus Fan- oder Spielersicht wenig ist, aber wenn sich das deckt und es für mich ausreichend für einen Elfmeter oder eine Rote Karte oder was auch immer ist, dann greift der Videoassistent nicht ein. Was soll er mir denn Neues präsentieren.” Heißt, dass in solchen Fällen am Ende die Wahrnehmung des Schiedsrichters ausschlaggebend ist und dieser nicht vom VAR korrigiert werden darf.

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Eine Besonderheit stellt jedoch die Situation dar, wenn der “Schiedsrichter gar keine Wahrnehmung” hat. “Dann ist der Spielraum des Videoassistenten größer”, sagt Aytekin und erklärt, dass es da “eine Grauzone” gibt und es für den VAR einfach ist, dem Schiedsrichter zu sagen, dass er sich besagte Szene “lieber selbst noch einmal anschauen soll”. Grundvoraussetzung dafür sei jedoch, dass der Schiedsrichter zugibt, “nichts gesehen zu haben”.

Realitätsfremd ist der Oberasbacher aber auch nicht, Aytekin weiß auch, dass “man eher geneigt ist, sich eine Szene vielleicht noch einmal anzugucken, je wichtiger die Spiele werden”. Pauschalisieren wolle er das aber auf gar keinen Fall, denn “da gibt es einen klaren Fahrplan”.

Das Problem der selektiven Wahrnehmung

Manchmal muss man sich selbst hinterfragen: Deniz Aytekin beim VAR-Check.

Manchmal muss man sich selbst hinterfragen: Deniz Aytekin beim VAR-Check.
IMAGO/RHR-Foto

Darüber hinaus ist sich Aytekin auch dessen bewusst, dass man allgemein “einer verzerrten Wahrnehmung” unterliegt. Deshalb versucht er, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und sich Inspiration bei Menschen zu holen, die außerhalb des Fußballs wirken. “Da gibt es ganz tolle Impulse”, betonte Aytekin und erklärt die Problematik der selektiven Wahrnehmung für Schiedsrichter. So kann es gut sein, dass man auch bei einer Überprüfung der TV-Bilder nur “das sieht, was man sehen will”.

Zu diesem Thema gebe es “viele interessante Studien”, erklärt der Unparteiische und verrät, dass er deshalb auch mit Verhaltensforschern zusammenarbeitet, weil man sich dessen bewusst sein sollte. “Wenn man sich ein bisschen damit beschäftigt, dann hinterfragt man sein eigenes Handeln als Schiedsrichter”, erläutert Aytekin und verrät seine Motivation dahinter – und die liegt in einer ganz bestimmten Frage begründet: “Wie kann ich das sinnvoll in die Spielleitung einbringen, damit man am Ende zum Wohle des Fußballs hoffentlich die richtige Entscheidung trifft?”

Walther Bensemann-Preis

Aytekin lässt zudem seine 16-jährige Karriere als Unparteiischer Revue passieren und verrät auch, was ihn im Hinblick auf die kommende Generation von Schiedsrichtern und Spielern besonders beeindruckt. Auch spricht er über Versuche, unterschiedliche Sichtweisen von Schiedsrichtern, Spielern, Trainern und Managern zusammenzubringen, die Bedeutung von großen Persönlichkeiten und welche besonderen Herausforderungen “alternde” Schiedsrichter haben.

Er erklärt auch, warum er lieber nicht zu nah am Geschehen ist und wie es ihm dabei geht, keine internationalen Spiele mehr leiten zu können. Er verrät auch, wer es schafft, ihn “zur Weißglut” zu bringen und in welchem Lebensbereich er “sehr häufig scheitert”.

Die neue “kicker meets DAZN”-Folge jetzt hören:

Podcast

KMD #209 (mit Deniz Aytekin)


01:55:35 Stunden

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