Das lange Warten seit 1959: Bleibt Torontos Fluch Bostons Segen?

Das lange Warten seit 1959: Bleibt Torontos Fluch Bostons Segen?

Durch das 5:1 der Boston Bruins gegen die Toronto Maple Leafs in der Nacht zum Sonntag ist eine der ältesten Playoff-Rivalitäten der NHL in seine nächste Auflage gegangen. Für Toronto kommt dieses Aufeinandertreffen allerdings mit vielen Altlasten.

Ein bekanntes Bild mit viel Vorgeschichte: Auch im ersten Spiel der diesjährigen Playoff-Serie gingen die Boston Bruins als Sieger hervor.

Ein bekanntes Bild mit viel Vorgeschichte: Auch im ersten Spiel der diesjährigen Playoff-Serie gingen die Boston Bruins als Sieger hervor.

NHLI via Getty Images

Torontos Entscheidungsspiele gegen Boston

Den Herzschmerz der NHL Playoffs kennt kaum ein Team derart gut, wie die Toronto Maple Leafs der vergangenen Jahre. Von der Saison 2016/17 an schafften es die Ahornblatt-Träger stets in die erste Runde der NHL Playoffs (im Bubble-Jahr 2020 war die Qualifizierungsrunde nicht offiziell Teil der Stanley Cup Playoffs), nur um dort ein ums andere Mal das vorzeitige Aus zu erleiden. Nach der Niederlage 2017 gegen die Washington Capitals gelang den Maple Leafs sogar das Kunststück, stets im finalen Entscheidungsspiel auszuscheiden.

Erst in der vergangenen Spielzeit konnte die Franchise aus dem Hockey-Mekka aufatmen, der verflixte Erstrunden-Fluch war durch einen 4:2-Seriengewinn über den Tampa Bay Lightning endlich Geschichte. Mit dem Start in die aktuellen Playoffs will Toronto einen weiteren dieser beinahe schon unheimlichen Flüche austreiben, die Wurzeln dessen gehen aber viel tiefer: Es geht – wie schon 2013, 2018 und 2019 – erneut gegen den Angstgegner, die Boston Bruins.

Sucht man nach dem letzten Playoff-Serien-Sieg der Maple Leafs gegen Boston in den Geschichtsbüchern, muss man weit zurückblättern. Vorbei an historischen Weltereignissen wie dem Mauerfall oder der Mondlandung, vorbei an den größten Spielern des Eishockeysports Wayne Gretzky oder Mario Lemieux. Der letzte Playoff-Erfolg Torontos in diesem geschichtsträchtigen Aufeinandertreffen zweier Original-Six-Teams liegt weit zurück, sehr weit. Ein 3:2-Sieg der Maple Leafs in Boston, am 7. April 1959, bedeutete letztmals das Playoff-Aus einer Bruins-Mannschaft durch die Hand Torontos. Sechsmal trafen die Franchises seitdem im Meisterschaftskampf aufeinander, sechsmal ging Boston als lachender Sieger vom Eis – auf teils kuriose Art und Weise.

Der Start des Fluchs: Toronto kollabiert nach 4:1-Führung

Es ist der 13. Mai 2013 (Ortszeit): Erstmals seit dem NHL-Lockout, der die Saison 2004/05 lahmgelegt hatte, stehen die Maple Leafs wieder in der Postseason und treffen zum ersten Mal im neuen Millennium in den Playoffs auf Boston. Nach drei Serien-Niederlagen Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre stehen die Chancen für eine verspätete Revanche gut. Zwar waren drei der ersten vier Spiele auf das Konto der Bruins gegangen und Toronto bereits kurz vor dem Aus gestanden. Doch zwei 2:1-Erfolge hatten die Serie wieder ausgeglichen und nun – auf fremdem Eis in einem vor Schock beinahe stillen TD Garden im Boston – hätten die Maple Leafs die Sensation perfekt machen können.

Die Toronto Maple Leafs werden die Boston Bruins eliminieren, sofern sie nicht auf kolossale Weise kollabieren.

Bruins-Kommentator Jack Edwards beim Spielstand von 1:4

Mit noch 14 Minuten und 31 Sekunden auf der Uhr hat Nazem Kadri soeben das 4:1 für die Gäste erzielt – eine Live-Schaltung zum Maple Leaf Square zeigt tausende jubelnde Fans, die sich in den Armen liegen, vereinzelt werden Attrappen des berühmten Stanley Cup in die Höhe gereckt. Gerechnet hat kaum ein Experte mit einem Weiterkommen der Leafs, doch nun, keine 15 Minuten vor dem Ende der regulären Spielzeit, scheint eine weite Playoff-Reise plötzlich möglich. So lässt sich auch der legendäre Bruins-Kommentator Jack Edwards, der nach den Playoffs 2024 seine Karriere beenden wird, zu einem inzwischen legendären Spruch hinreißen. “Die Toronto Maple Leafs werden die Boston Bruins eliminieren, sofern sie nicht auf kolossale Weise kollabieren.” Die in diesem Moment realistische Annahme wird nachhallen, in Boston wie auch in Toronto.

Was sich in den Folgeminuten auf dem Eis abspielen wird, gleicht dann mehr einem Film und weniger einem Eishockey-Spiel: Mit noch etwas mehr als zehn Minuten auf der Uhr versenkt Nathan Horton eine passgenaue Vorlage seines Angriffspartners Milan Lucic in den Maschen und eine Frage ist Anhängern beider Lager ins Gesicht geschrieben. Könnte Boston doch noch einmal aufkommen? Doch die Uhr tickt – gegen Boston und für die Leafs. Bei einer Restspielzeit von noch knapp zwei Minuten geht Bruins-Goalie Tuukka Rask zur Bank, Boston wird für beinahe die komplette Restspielzeit einen Skater mehr auf dem Eis haben.

Bergeron komplettiert das Comeback

Weiterhin läuft die Uhr gegen Boston, Sekunde für Sekunde wird ein Weiterkommen Torontos wahrscheinlicher. Aufgegeben haben die Bruins allerdings noch nicht, was 82 Sekunden vor dem Ende ein weiteres Mal belohnt wird. Leafs-Schlussmann James Reimer kann einen Schuss von Verteidiger Zdeno Chara nicht entscheidend abwehren, Lucic ist zur Stelle und besorgt das 3:4 aus Sicht der Hausherren. Direkt im Anschluss nimmt Bruins-Coach Claude Julien ein Timeout – ein letzter vorausgeplanter Angriff soll doch noch den vor wenigen Minuten unmöglich erscheinenden Ausgleich bringen.

Brad Marchand, Patrice Bergeron, Tyler Seguin

Comeback perfekt: Patrice Bergeron dreht nach seinem Overtime-Treffer zum 5:4 jubelnd ab.
Getty Images

32 Sekunden später ist es dann so weit: Bruins-Center Patrice Bergeron probiert es nahe der Blue Line mit einem letzten Abschluss, eine letzte Möglichkeit. Vor dem Netz nimmt Chara, Bostons 2,06-Meter-Hühne, Reimer die Sicht und Bergerons Schuss findet zum Unglauben aller, die sich auf dem Maple Leafs Square eingefunden haben, tatsächlich den Weg ins Tor. Geschafft ist das monumentale Comeback dann Minuten später – genauer gesagt nach rund sechs Minuten in der Overtime. Bei einem Rebound ist Torontos Defensive unsortiert, aufgepasst hat nur ein Bruin: Bergeron. Mit seinem Schlenzer vorbei an dem hilflos auf dem Eis liegenden Reimer bringt er die Stimmung im TD Garden endgültig zum Überkochen. Und während sich Fans und Spieler der Hausherren überschwänglich in den Armen liegen, ist Torontos Playoff-Trauma geboren.

Auch 2018 und 2019 soll es für die Leafs nicht klappen

Fünf Jahre später und mit einem grundveränderten Team bietet sich Toronto die Chance zur Traumaverarbeitung. Mit neuen Jung-Stars wie Auston Matthews, Mitchell Marner oder William Nylander haben die Maple Leafs eine aufregende Zukunft vor sich, die Geschichte gegen Boston bleibt jedoch weitgehend die selbe. Wieder schnappen sich die Bruins einen schnellen 3:1-Serien-Vorsprung, wieder erzwingt Toronto durch zwei Siege das Entscheidungsspiel in Boston. Nur ein legendäres Comeback braucht es diesmal nicht. Zwar gehen die Leafs durch Patrick Marleau in der 3. Spielminute und Kasperi Kapanen in der 27. Minute gleich zweimal in Führung, für einen Sieg soll es aber erneut nicht reichen. Vier Treffer der Bruins im Schlussabschnitt bedeuten das erneute Playoff-Aus für Toronto.

Auch im Folgejahr 2019 kommt es wieder zum Erstrunden-Duell zwischen Boston und Toronto, vor dem entscheidenden siebten Spiel der Serie sind die Vorzeichen diesmal allerdings umgestellt. Nicht Toronto, sondern Boston musste sich diesmal den Weg dorthin erkämpfen, erst nach einem hart erkämpften 4:2-Sieg in Spiel sechs ist das Entscheidungsspiel in Boston überhaupt möglich. Am Ergebnis ändert das allerdings wenig, wieder behält Boston die Oberhand und dringt nach einem klaren 5:1 in die nächste Playoff-Runde vor.

So stellt sich auch im Lichte der diesjährigen Erstrundenserie wieder die Frage: Ist es dieses Jahr endlich so weit? Nach der klaren Niederlage in Spiel eins steht Toronto jedenfalls jetzt schon unter mächtigem Druck, ein weiterer Eintrag in die dunkle Playoff-Historie gegen die Bruins soll um jeden Preis verhindert werden. Die Vorzeichen könnten aus Sicht der Kanadier allerdings besser sein, schließlich würde ein mögliches Spiel sieben auch in diesem Jahr wieder im Bostoner TD Garden steigen.

Constantin Frieser