Mal eben schnell Geschichte schreiben

Mal eben schnell Geschichte schreiben

Das Double Giro und Tour gilt im modernen Radsport als nicht mehr machbar – Tadej Pogacar (25) will ab Samstag das Gegenteil beweisen.

Der Schalk blitzt ihm aus den Augen, inmitten des Trubels um seine Person wirkt er wie der höfliche, stets gut gelaunte junge Mann von nebenan. Ein Mann, der seinen jungen Fans am Straßenrand bei schweißtreibenden Bergauffahrten schon mal lächelnd seine Trinkflaschen in die Hand drückt – oder wie zuletzt beim Giro d’Italia dem Konkurrenten Giulio Pellizzari im Zielbereich sein rosa Führungstrikot und seine Brille schenkt, nachdem er ihm kurz zuvor den sicher geglaubten Etappensieg noch entriss. Tadej Pogacar eben, der deswegen nicht nur der derzeit im Gesamtpaket beste Radfahrer auf diesem Planeten ist, sondern auch der mit der weltweit größten Anhängerschar.

Dabei führt der 25-Jährige eigentlich Übles im Schilde, zumindest für diejenigen, die im Sport spannende, knappe Entscheidungen und wechselnde Sieger lieben. In dieser Beziehung ist der nette Slowene der Wolf im Schafspelz. Nicht weniger als der Beste in der Geschichte will er werden, und der Ausnahmefahrer, dessen außergewöhnliches Talent sich bereits im Alter von elf, zwölf Jahren zeigte, befindet sich schnurstracks auf dem Weg dorthin.

Merckx: “Er wird mich übertreffen”

In den Annalen des Radsports hat er sich schon mit so vielen bemerkenswerten Einträgen verewigt, dass Eddy Merckx, dem für ewig der Titel “Bester aller Zeiten” beschieden schien, sich dessen nicht mehr sicher sein kann. Der heute 78-jährige Belgier hat damit überhaupt kein Problem, er reihte sich vielmehr schon in die Schar der Bewunderer ein, als Pogacar vor vier Jahren im Alter 21 zum ersten Mal die Tour de France gewinnen konnte. “Er ist um so vieles besser, als ich es in diesem Alter war, er wird mich übertreffen”, prophezeite der wegen seines unstillbaren Hungers nach Siegen auch heute noch “Kannibale” Genannte.

Und doch, um Merckx zu überflügeln, liegt noch eine lange, mühsame Wegstrecke vor dem in Monaco lebenden Slowenen. So fehlt ihm in seiner Vita noch etwas ganz Grundlegendes: und zwar das begehrteste Double des Radsports, den Giro d’Italia und die Tour de France in einem Jahr zu gewinnen. Doch genau dies will Pogacar ändern, wenn am kommenden Samstag in Florenz die 111. Auflage des größten und bedeutendsten Radrennens auf diesem Planeten startet.

Pantani holte als letzter Fahrer das Double

Wie ambitioniert sein Vorhaben ist, lässt sich allein daran ablesen, dass besagtes Double erst sieben Ausnahmekönnern vergönnt war. Und es ist auch kein Zufall, dass sich Marco Pantani vor 26 Jahren als Letzter in diese Liste eintragen konnte. Seitdem hat sich im Radsport von der Ernährung, übers Material und der Art des Trainings bis hin zum Fokussieren auf zwei, drei große Rennen so viel geändert, dass besagtes Double als schier nicht mehr machbar eingestuft wird. Wer den Giro auf Sieg fährt, muss so tief gehen, wie es im Fachjargon heißt, dass der Körper gute fünf Wochen später bei der Tour nicht mehr in der Lage sein wird, diese zu gewinnen. Einige wenige haben sich jüngst daran gewagt, die allermeisten sind krachend gescheitert. Am nächsten dran war noch Chris Froome, der nach seinem Giro-Sieg 2018 Vierter bei der Tour wurde.

Wenn aber einer dieses ungeschriebene Gesetz des modernen Radsports widerlegen kann, dann Pogacar, darin ist sich die Radsportwelt einig. Als der Slowene Anfang Mai mit dem Ziel Double erstmals den Giro unter seine Reifen nahm, hob die spanische Radsportlegende Miguel Indurain schon mal den Daumen. “Er hat auf jeden Fall dafür das Vermögen”, meinte der Mann, der während der Tour 60 Jahre wird und dem als Einzigem bislang das doppelte Double (1992 und 1993) gelang.

Neuer Trainer und andere Vorbereitung

Mit dem Blick aufs Double hat Pogacar ganz andere Seiten aufgezogen: So hat er zu Jahresbeginn seinen Trainer gewechselt und zudem mit der Leitung seines Teams UAE sein Trainings- wie Rennprogramm geändert. Statt wie bislang an sieben Frühjahrsklassikern teilzunehmen, sind es deren nur noch drei gewesen, und mit der Katalonien-Rundfahrt hat er nur eine einwöchige Etappenfahrt absolviert. “Wir haben ihn ruhig zu Hause arbeiten lassen mit dem Fokus speziell auf Etappenrennen”, berichtet Team-Manager Mauro Gianetti. Letzteres beinhaltete zum Beispiel, dass der Slowene im Training deutlich mehr als früher lange Bergauffahrten in seinem Plan stehen hatte.

Wie gut Pogacar auf die neuen Trainingsreize reagierte, erstaunte beim stetigen Überprüfen der Werte auch sein Team. “Alle Parameter übertreffen unsere Erwartungen”, sagte Gianetti unlängst.

In welch grandioser Verfassung sich der zweimalige Tour-Sieger befindet, hat auch jeder Außenstehende mit bloßem Auge erkennen können. Bei der Strade Bianche, der Hatz durch die toskanischen Hügel über schwere Schotterpassagen, gewann er nach einem monströsen 81-Kilometer-Solo, bei Lüttich-Bastogne-Lüttich überquerte er nach einer 35 Kilometer langen einsamen Fahrt an der Spitze ebenfalls als Solist die Ziellinie. Und hinter den Giro, den ersten Teil seiner historischen Mission, konnte er kürzlich in einer Art und Weise einen Haken setzen, der im zeitgenössischen, täglich hart an Verbesserungen im Sekundenbereich arbeitenden Radsport ebenfalls seinesgleichen sucht: sechs Etappensiege, mit fast zehn Minuten einen Vorsprung herausgefahren, wie es ihn seit rund sechs Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte. Noch Fragen? Ja, denn auch wenn all dies nach unbesiegbar klingen mag, so gibt es sie sehr wohl, die Abers.

Das erste formuliert der bereits erwähnte Indurain. “Du musst sehr sorgfältig mit deiner Energie umgehen”, betont der fünfmalige Toursieger, der die allermeisten dieser Triumphe im Stil eines kühl kalkulierenden Buchhalters einfuhr.

Pogacar ist auf Attacke gebürstet

Nun ja, Pogacar mag als Alleskönner, der selbst in einen Sprint erfolgversprechend reinhalten kann, viele, viele Stärken haben, rationale Zurückhaltung gehört gewiss nicht dazu. Er ist auf Attacke gebürstet, wenn es die Beine hergeben, wird angegriffen. Punkt.

Als er die schwere vorletzte Etappe beim Giro mit der zweimaligen Auffahrt auf den steilen Monte Grappa hinauf mal wieder als Solo-Sieger beendete, bejubelte er dies zwar zunächst euphorisch, doch später gab er zu, dass es dies angesichts seines Vorsprungs nicht gebraucht hätte. Somit bleibt die Frage, wieviel Energie ihn der Giro wirklich gekostet hat? Dass der Schein der vermeintlich mühelosen Siege trügen kann, darauf verweisen jedenfalls nicht wenige Experten.

Nun zum nächsten Aber: Ernsthafter Gegenwehr hatte er sich bei der dreiwöchigen Fahrt durch Italien nicht mal ansatzweise zu erwehren, all seine potenziell gefährlichen Konkurrenten haben sich, wie es im modernen Radsport Usus ist, auf die Frankreich-Rundfahrt konzentriert.

Die glorreichen Vier treffen erstmals aufeinander

Fuhren 2023 noch im gleichen Team: Jonas Vingegaard (links) und Primoz Roglic.

Fuhren 2023 noch im gleichen Team: Jonas Vingegaard (links) und Primoz Roglic.
IMAGO/Sirotti

So kommt es ab dem kommenden Samstag zum ersten Mal zum Aufeinandertreffen der derzeit besten Grand-Tour-Fahrer. Pogacar, der belgische Wunderknabe Remco Evenepoel (24, Soudal Quick-Step), der für den deutschen Rennstall Red Bull bora hansgrohe in die Pedale tretende Primoz Roglic (34) und der zuletzt zweimal die Tour dominierende Jonas Vingegaard (27, Visma – Lease a bike) sind die glorreichen Vier, die in erster Linie für den Tour-Sieg infrage kommen.

Was die drei Letztgenannten indes vereint: Ihre Vorbereitung wurde von schweren Stürzen massiv beeinträchtigt. Am schlimmsten erwischte es Vingegaard beim Massencrash bei der Baskenland-Rundfahrt Anfang April, in den auch Evenepoel und Roglic verwickelt waren. Der Däne musste nach mehreren Brüchen sowie einem Lungenkollaps einen Monat pausieren. Ob er würde antreten können, darum machte sein Rennstall lange ein Geheimnis. Erst am vergangenen Donnerstag gab das Team bekannt, dass der zweimalige Tour-Sieger in Florenz an der Startlinie stehen wird.

Jorgensen als Geheimwaffe im Windschatten von Vingegaard?

Pogacar und seine Equipe überraschte dies nicht, sie gingen ohnehin immer davon aus – wie auch davon, dass der Däne in Bestform antreten wird. Auch wenn hinter Letzterem ein gar nicht so kleines Fragezeichen steht, auszuschließen ist es nicht. Sollte das mit der Top-Form der Fall sein, stehen erst recht alle Zeichen auf eine “epische Tour”, so wie es Vingegaard im vergangenen Jahr bei der Streckenpräsentation prophezeite – und zwar mit ihm als Top-Favorit, allein sein Sieg beim Einzelzeitfahren bei der vergangenen Tour mit der bislang am höchsten gemessenen Leistung im Radsport lässt grüßen. Und bis zum Sturz war er in diesem Frühjahr ebenso grandios unterwegs wie Pogacar. Nicht zu vergessen, dass in seiner niederländischen Equipe mit dem US-Amerikaner Matteo Jorgensen (25) auch der heißeste Außenseitertipp zu finden ist.

Mal eben schnell Geschichte schreiben, wird also verdammt schwierig für Pogacar. Und wenn ihm nun nach seinem Giro-Auftritt wie einst nach seinem zweiten Tour-Triumph 2021 etliche das Etikett “unschlagbar” verpassen, so weiß er, dass dem nicht so ist. Was er auch weiß: Er muss drei Wochen verdammt schnell unterwegs sein, um seinem großen Ziel wieder ein Stück näher zukommen.

Chris Biechele