“Die Real-Spieler wussten nicht, wie sie dieses Spiel gewinnen konnten”

Thomas Brdaric (47) stand im Champions-League-Finale am 15. Mai 2002 in Leverkusens Startelf gegen Real Madrid. Im kicker-Interview erinnert er sich an “ein Jahr wie im Märchen” – und den bitteren Abschluss.

Mittendrin im Konzert der Großen: Thomas Brdaric (re.) grätscht gegen Real-Star Luis Figo.

Mittendrin im Konzert der Großen: Thomas Brdaric (re.) grätscht gegen Real-Star Luis Figo.

imago images/Mary Evans

kicker: Herr Brdaric, von 1999 bis 2003 spielten Sie für Bayer Leverkusen. Nehmen Sie uns einmal mit in die Zeit, in der der Begriff “Vizekusen” entstand.

Thomas Brdaric (47): Gerne. Ist ja viel passiert damals. Dinge, die man nicht vergisst. Ich erinnere mich an einen in jenen Jahren schon sehr gut geführten Verein mit tollen Spielern in einer von Reiner Calmund zusammengestellten Super-Truppe, die fast schon zum Siegen verdammt war. Die aber, und darauf spielen Sie ja an, in kurzer Abfolge mehrfach knapp scheiterte.

Schmerzlicher Höhepunkt war das verlorene Champions-League-Endspiel vor genau 20 Jahren, am 15. Mai 2002, in Glasgow gegen Real Madrid – 1:2. Welche Erinnerungen haben Sie?

Zuerst einmal erinnere ich mich daran, dass die Real-Spieler hinterher selbst nicht so richtig wussten, wie sie dieses Spiel gewinnen konnten. Sie hatten gefühlt zweimal auf unseren Kasten geschossen, dabei einen Glückstreffer durch Raul und ein Traumtor durch Zidane erzielt. Wir waren das ganze Spiel über dran, auch ich hatte eine große Chance zur Führung, nachdem Lucio zwischenzeitlich das 1:1 gelungen war. Dimitar Berbatov und Ulf Kirsten kamen noch herein, aber es sollte einfach nicht sein. Und Iker Casillas, der bei Madrid für den verletzten Cesar Sanchez ins Tor musste, wuchs einfach über sich hinaus. Ein ganz bitterer Abschluss einer unfassbaren Saison!

Unfassbar, weil Bayer 04 in der Meisterschaft einen Fünf-Punkte-Vorsprung vor Dortmund in den letzten drei Partien verspielte, schließlich Zweiter wurde und auch das DFB-Pokalfinale gegen Schalke vier Tage vor dem Madrid-Spiel mit 2:4 verloren hatte?

Ja, Wahnsinn, oder? Erklärbar ist das bis heute nur schwer. Wir hatten am Ende weit über 50 Pflichtspiele in jener Saison in den Knochen. Aber es war nicht die Müdigkeit. Vielleicht überstrahlte das bevorstehende Finale in Glasgow gegen Real alles und nahm auch uns ein bisschen von der Konzentration auf die anderen Wettbewerbe. Aber international hatten wir ganz ehrlich auch ein Jahr wie im Märchen.

Wie tief saß der Stachel nach den verpassten Titeln?

Nun, wir sind als Mannschaft nicht auseinander gebrochen. In der Champions League reichte es ein Jahr später bis in die Zwischenrunde, im DFB-Pokal flogen wir 2003 im Halbfinale bei den Bayern raus. Aber in der Liga hatten wir Probleme, sicherten uns erst ganz spät mit Trainer Klaus Augenthaler, der für Klaus Toppmöller und zwischenzeitlich Thomas Hörster übernommen hatte, knapp den Klassenerhalt.

Ich glaube, wir waren uns einfach zu sicher.

Thomas Brdaric über die vergebene Meisterschaft 2000

Das Drama von 2002 hat unterdessen ja eine Vorgeschichte im Mai 2000. Da ließ Bayer mit einem 0:2 bei der schon geretteten SpVgg Unterhaching am letzten Spieltag den Meistertitel liegen. Wie konnte das passieren?

Ich glaube, wir waren uns einfach zu sicher. Unser Trainer Christoph Daum stellte uns noch am Abend vorm Spiel im Hotel die Gewissensfrage: Was ist euch wichtiger – wollt ihr nur viel Geld auf dem Konto haben oder wollt ihr einen Titel? Natürlich wollten wir die Meisterschale. Und die stand ja sogar im Sportpark in Haching schon im wahrsten Sinne zum Greifen nah für die Übergabe nach dem Spiel bereit! Wir gingen auf dem Weg zum Platz an der Schale vorbei.

Bundesliga

Was passierte dann?

Daum ließ unser offensivstarkes Team mit einer neuen, auf Sicherheit bedachten Taktik antreten. Ein Punkt hätte ja gereicht! Dann passierte Michael Ballack dieses Missgeschick mit dem Eigentor und das Unbegreifliche nahm seinen Lauf. Es war wahnsinnig heiß in dem kleinen, engen Stadion. Wir fanden einfach nicht zurück. Ich hatte im Hinspiel als Joker beim 2:1-Sieg zweimal getroffen, wurde diesmal wieder eingewechselt und hatte per Kopf die Möglichkeit zum Ausgleich. Gerhard Tremmel hielt den Ball, später hat er mich in unserer gemeinsamen Zeit in Hannover übrigens wieder freundlich daran erinnert … Haching machte bald das 2:0 – und die Schale wurde nach Spielschluss von Unterhaching ins Münchner Olympiastadion gefahren, wo die Bayern uns mit einem 3:1 gegen Bremen im letzten Moment noch abgefangen hatten.

Wie gehen Sie heute mit dem Begriff “Vizekusen”, den sich der Verein sogar zum Schutz vor Missbrauch patentieren lassen hat, um?

Besonders lustig finde ich ihn logischerweise noch immer nicht. Aber es ist ja irgendwie auch ein Markenzeichen, ein Merkmal für diesen Klub. Das ist besser als für gar nichts zu stehen. Und gefühlt wird mehr darüber gesprochen als anderswo über so manch eine Meisterschaft … Mit den ganz Großen in Deutschland und Europa, denen wir damals so nahe gerückt waren, können die Leverkusener heute allein aus wirtschaftlicher Sicht nicht mithalten. Aber sie haben sportlich immer wieder gute Mannschaften am Start, zusammengestellt und trainiert von wirklich fähigen Leuten. Allein aufgrund dieser Nachhaltigkeit über Jahrzehnte wünschte ich Bayer 04, dass es bald wirklich einmal wieder zu einem Titel reicht.

Interview: Michael Richter

“Die Real-Spieler wussten nicht, wie sie dieses Spiel gewinnen konnten”

Thomas Brdaric (47) stand im Champions-League-Finale am 15. Mai 2002 in Leverkusens Startelf gegen Real Madrid. Im kicker-Interview erinnert er sich an “ein Jahr wie im Märchen” – und den bitteren Abschluss.

Mittendrin im Konzert der Großen: Thomas Brdaric (re.) grätscht gegen Real-Star Luis Figo.

Mittendrin im Konzert der Großen: Thomas Brdaric (re.) grätscht gegen Real-Star Luis Figo.

imago images/Mary Evans

kicker: Herr Brdaric, von 1999 bis 2003 spielten Sie für Bayer Leverkusen. Nehmen Sie uns einmal mit in die Zeit, in der der Begriff “Vizekusen” entstand.

Thomas Brdaric (47): Gerne. Ist ja viel passiert damals. Dinge, die man nicht vergisst. Ich erinnere mich an einen in jenen Jahren schon sehr gut geführten Verein mit tollen Spielern in einer von Reiner Calmund zusammengestellten Super-Truppe, die fast schon zum Siegen verdammt war. Die aber, und darauf spielen Sie ja an, in kurzer Abfolge mehrfach knapp scheiterte.

Schmerzlicher Höhepunkt war das verlorene Champions-League-Endspiel vor genau 20 Jahren, am 15. Mai 2002, in Glasgow gegen Real Madrid – 1:2. Welche Erinnerungen haben Sie?

Zuerst einmal erinnere ich mich daran, dass die Real-Spieler hinterher selbst nicht so richtig wussten, wie sie dieses Spiel gewinnen konnten. Sie hatten gefühlt zweimal auf unseren Kasten geschossen, dabei einen Glückstreffer durch Raul und ein Traumtor durch Zidane erzielt. Wir waren das ganze Spiel über dran, auch ich hatte eine große Chance zur Führung, nachdem Lucio zwischenzeitlich das 1:1 gelungen war. Dimitar Berbatov und Ulf Kirsten kamen noch herein, aber es sollte einfach nicht sein. Und Iker Casillas, der bei Madrid für den verletzten Cesar Sanchez ins Tor musste, wuchs einfach über sich hinaus. Ein ganz bitterer Abschluss einer unfassbaren Saison!

Unfassbar, weil Bayer 04 in der Meisterschaft einen Fünf-Punkte-Vorsprung vor Dortmund in den letzten drei Partien verspielte, schließlich Zweiter wurde und auch das DFB-Pokalfinale gegen Schalke vier Tage vor dem Madrid-Spiel mit 2:4 verloren hatte?

Ja, Wahnsinn, oder? Erklärbar ist das bis heute nur schwer. Wir hatten am Ende weit über 50 Pflichtspiele in jener Saison in den Knochen. Aber es war nicht die Müdigkeit. Vielleicht überstrahlte das bevorstehende Finale in Glasgow gegen Real alles und nahm auch uns ein bisschen von der Konzentration auf die anderen Wettbewerbe. Aber international hatten wir ganz ehrlich auch ein Jahr wie im Märchen.

Wie tief saß der Stachel nach den verpassten Titeln?

Nun, wir sind als Mannschaft nicht auseinander gebrochen. In der Champions League reichte es ein Jahr später bis in die Zwischenrunde, im DFB-Pokal flogen wir 2003 im Halbfinale bei den Bayern raus. Aber in der Liga hatten wir Probleme, sicherten uns erst ganz spät mit Trainer Klaus Augenthaler, der für Klaus Toppmöller und zwischenzeitlich Thomas Hörster übernommen hatte, knapp den Klassenerhalt.

Ich glaube, wir waren uns einfach zu sicher.

Thomas Brdaric über die vergebene Meisterschaft 2000

Das Drama von 2002 hat unterdessen ja eine Vorgeschichte im Mai 2000. Da ließ Bayer mit einem 0:2 bei der schon geretteten SpVgg Unterhaching am letzten Spieltag den Meistertitel liegen. Wie konnte das passieren?

Ich glaube, wir waren uns einfach zu sicher. Unser Trainer Christoph Daum stellte uns noch am Abend vorm Spiel im Hotel die Gewissensfrage: Was ist euch wichtiger – wollt ihr nur viel Geld auf dem Konto haben oder wollt ihr einen Titel? Natürlich wollten wir die Meisterschale. Und die stand ja sogar im Sportpark in Haching schon im wahrsten Sinne zum Greifen nah für die Übergabe nach dem Spiel bereit! Wir gingen auf dem Weg zum Platz an der Schale vorbei.

Bundesliga

Was passierte dann?

Daum ließ unser offensivstarkes Team mit einer neuen, auf Sicherheit bedachten Taktik antreten. Ein Punkt hätte ja gereicht! Dann passierte Michael Ballack dieses Missgeschick mit dem Eigentor und das Unbegreifliche nahm seinen Lauf. Es war wahnsinnig heiß in dem kleinen, engen Stadion. Wir fanden einfach nicht zurück. Ich hatte im Hinspiel als Joker beim 2:1-Sieg zweimal getroffen, wurde diesmal wieder eingewechselt und hatte per Kopf die Möglichkeit zum Ausgleich. Gerhard Tremmel hielt den Ball, später hat er mich in unserer gemeinsamen Zeit in Hannover übrigens wieder freundlich daran erinnert … Haching machte bald das 2:0 – und die Schale wurde nach Spielschluss von Unterhaching ins Münchner Olympiastadion gefahren, wo die Bayern uns mit einem 3:1 gegen Bremen im letzten Moment noch abgefangen hatten.

Wie gehen Sie heute mit dem Begriff “Vizekusen”, den sich der Verein sogar zum Schutz vor Missbrauch patentieren lassen hat, um?

Besonders lustig finde ich ihn logischerweise noch immer nicht. Aber es ist ja irgendwie auch ein Markenzeichen, ein Merkmal für diesen Klub. Das ist besser als für gar nichts zu stehen. Und gefühlt wird mehr darüber gesprochen als anderswo über so manch eine Meisterschaft … Mit den ganz Großen in Deutschland und Europa, denen wir damals so nahe gerückt waren, können die Leverkusener heute allein aus wirtschaftlicher Sicht nicht mithalten. Aber sie haben sportlich immer wieder gute Mannschaften am Start, zusammengestellt und trainiert von wirklich fähigen Leuten. Allein aufgrund dieser Nachhaltigkeit über Jahrzehnte wünschte ich Bayer 04, dass es bald wirklich einmal wieder zu einem Titel reicht.

Interview: Michael Richter